Fast zwei Jahre nach seiner Bundestags-Rede

"In diesem Lande ist immer noch einiges falsch": Marcel Reif "fassungslos" über zunehmenden Antisemitismus

27.11.2025 von SWYRL

Fast zwei Jahre nach seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag ist Marcel Reif noch immer erstaunt über die Reaktionen darauf. Fast täglich werde er darauf angesprochen, was ihm Hoffnung bereite. Der zunehmende Antisemitismus mache ihn "fassungslos", so der Sportreporter im Interview mit der Agentur teleschau.

Am 24. Januar 2024 hielt Marcel Reif im Bundestag eine viel beachtete Rede anlässlich des Holocaust-Gedenktages. Ein wesentliches Zitat daraus wirkt bis heute nach: "Sei a Mensch", gab der Sportreporter die Worte seines Vaters wider, der die Shoah einst überlebte, während ein Großteil der Familie ermordet wurde. Zwei Jahre später werde er noch immer fast täglich auf die Rede angesprochen, wie Reif nun in einem Interview mit der Nachrichtenagentur teleschau berichtet: "Das ist faszinierend, und vor allem macht es Hoffnung. Dass das "so viele Menschen an sich ranlassen und mitbekommen haben, ist nicht mein Verdienst. Aber die daraus entstandene Wirkung tut diesem Land gut - bei vielen Dingen, die nicht so gut sind."

Über die Wirkung habe er sich vor und während der Rede allerdings keinerlei Gedanken gemacht, so Reif: "Ich dachte nicht eine Sekunde daran, ob Frau Baerbock weinen könnte. Nicht im Geringsten ging es um einen Effekt. Was dann daraus geworden ist, das hat mich im Nachhinein erstaunt." Seine Rede habe er in einem "Spannungsfeld" gehalten, erinnert sich der 76-Jährige. Es sei auch um die Reaktionen auf den 7. Oktober gegangen und "darum, dass hierzulande das Thema Antisemitismus wieder spruchreif wird. Aber es hält darüber hinaus an, und das ist das Wichtige. Und es wurde auch als etwas verstanden, das über diesen Moment hinausweist." Dabei sei der Satz "Sei a Mensch" ja "kaum ein Satz, drei läppische Worte, die aber so eine Wucht entwickeln".

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"Ich lasse es jetzt mehr an mich ran"

Auch der Blick auf seine Familiengeschichte sei im Nachgang der Rede "umfassender geworden", so der Journalist: "Ich lasse es jetzt mehr an mich ran. Und ich sehe das Ganze, etwa welche Rolle meine Mutter spielte. Das liegt auch daran, dass ich älter werde und mehr Zeit habe, Dinge in einem größeren Zusammenhang zu sehen als nur das Episodenhafte. An der Bewertung und Haltung hat sich aber wenig geändert." Seine Mutter, berichtet Reif im teleschau-Interview, habe ihn einmal gefragt: : "Musst du denn immer erzählen, dass dein Papa Jude war?" - "Als ich die Wucht dieser Aussage begriffen habe, hat mich das zutiefst deprimiert. Aber ich kann ihr keinen Vorwurf machen. Daran sah ich: In diesem Lande ist immer noch einiges falsch."

Um seine eigene Sicherheit habe er sich nach dem 7. Oktober und nach seiner Rede aber nicht gesorgt: "Das empfinde ich nicht. Aber wenn sich meine Cousine in Tel Aviv in diesen Zeiten am Telefon Sorgen um mich macht, weiß man, dass hier irgendwas schiefläuft." Er selbst wolle darüber nicht nachdenken, "sonst werde ich paranoid". Dass das Jüdische Museum geschützt sei "wie Fort Knox" mache ihm "jedes Mal Übelkeit", so Reif, der in Polen geboren wurde und in Kaiserslautern aufwuchs. Dass sich in Deutschland wieder diese Art von Antisemitismus breitmachen würde, "ließe ihn im Grab rotieren", sagt der Schweizer Staatsbürger mit Blick auf seinen Vater. - "Und mich macht es fassungslos."

"Einen Rückzug ins Private gibt es nicht"

Reif warnt: "Antisemitismus bedroht nicht nur Juden, sondern unser Selbstverständnis. Das Selbstverständnis dieses neuen, anderen Deutschlands. Wenn das Raum greifen darf, und das darf es zu sehr, macht mich das stockwütend. Denn das hat mein Vater nicht verdient. Das haben die Ermordeten - sechs Millionen Mal ein Mensch, ich hasse den Ausdruck 'sechs Millionen' - nicht verdient." Aus der Rede habe er auch gelernt, "dass ich mich nicht verstecken kann, dass ich das nicht als meine private Geschichte abtun kann". Denn: "Einen Rückzug ins Private gibt es nicht. Ich bin eine öffentliche Figur, ob mir das nun passt oder nicht."

2026 fungiert Marcel Reif als Co-Schirmherr des vom History-Channel verliehenen "History-Awards". Ausgezeichnet werden Schülerinnen und Schüler für Videoprojekte die unter dem Motto "Sei ein Mensch!" stehen sollen. Eine Anmeldung ist noch bis zum 31. Dezember möglich; die Projekte müssen bis März eingereicht werden. Mehr Informationen gibt es unter history.de.

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