Fußball-Europameisterschaft der Frauen von 2. bis 27. Juli

ZDF-Fußballexpertin Kathrin Lehmann: "Nur zwei der vier großen Nationen sehe ich im Halbfinale"

01.07.2025 von SWYRL/Eric Leimann

Kathrin Lehmann war Schweizer Nationalspielerin im Fußball und im Eishockey. Sie arbeitete am Lehrstuhl für Sportpädagogik der TU München und betreibt eine Agentur, die Frauen Ü30 zurück in den Mannschaftssport holen will. Von 3. Juli an kommentiert sie die Frauenfußball-EM im ZDF.

Kathrin Lehmann hat mit 45 Jahren Karrieren vorzuweisen, die normalerweise für drei bis vier erfolgreiche Leben reichen sollten. Die gebürtige Zürcherin schaffte es sowohl ins Tor der Schweizer Fußball-Nationalmannschaft als auch in die Sturmreihe der eidgenössischen Frauenauswahl im Eishockey. Eine geradezu Guinness-Buch-reife Leistung. Doch damit nicht genug. Die in München lebende Ausnahmeathletin unterrichtete an der TU München ihren speziellen Ansatz zu Bewegungslehre. Heute versucht sie, Frauen über 30 wieder zum Mannschaftssport zu bringen - weil es hier eine gesellschaftliche Lücke gibt. Im Interview spricht die ZDF-Expertin für die Fußball-Europameisterschaft der Frauen (2. bis 27. Juli) über Chancen des deutschen Teams, andere Turnierfavoriten und über die Gründe, warum Fußball mit Frauen anders funktioniert als jener der Männer. Das ZDF berichtet mit Moderator Sven Voss und Expertin Kathrin Lehmann erstmals ab Donnerstag, 3. Juli, 17.35 Uhr, vom Turnier. Um 18.00 Uhr spielt Belgien gegen Italien und um 21 Uhr die Weltmeisterinnen aus Spanien gegen Portugal.

teleschau: Sie sind gebürtige Schweizerin, leben aber schon lange mit deutschem und schweizerischem Pass in München. Wem drücken Sie bei der EM die Daumen?

Kathrin Lehmann: Ich wohne seit fast 25 Jahren in Deutschland. Da ist die Frage schwer zu beantworten. München ist meine Wahlheimat. Mein Wunsch wäre, dass Deutschland und die Schweiz im Finale stehen.

teleschau: Auch da müsste eines der beiden Teams gewinnen ...

Kathrin Lehmann: Ich kann Ihre Frage nicht beantworten (lacht). Es ist emotional schwierig für mich. Schweizerisch ist meine Muttersprache, ich habe für die Schweiz gespielt. Andererseits lebe ich länger in Deutschland als irgendwo sonst. Wenn ich eine klare Antwort geben würde, wären entweder die Schweizer oder meine deutschen Freunde sehr enttäuscht. Was ich aber sagen kann: Ich bin unfassbar stolz, dass diese Fußball-EM in der Schweiz stattfindet.

Abonniere unseren Newsletter und wir versprechen, deine Mailadresse nur dafür zu verwenden.

Abonniere doch jetzt unseren Newsletter
Mit Anklicken des Anmeldebuttons willige ich ein, dass mir die teleschau GmbH den von mir ausgewählten Newsletter per E-Mail zusenden darf. Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und kann den Newsletter jederzeit kostenlos abbestellen.

"Das Fieber steigt definitiv an"

teleschau: Nach dem Klischee sind Schweizer bedächtige Menschen. Gibt es trotzdem so etwas wie ein Fußball-EM-Fieber in der Schweiz?

Kathrin Lehmann: Das Fieber steigt definitiv an. Es ist die größte Sportveranstaltung seit der Männer-Fußball-EM 2008 - und die hatten wir uns mit Österreich geteilt. In der Schweiz ist es genauso wie im Rest der Welt. Die Event-Dichte ist heute so hoch, dass man erst kurz vor einem Großereignis realisiert, was bald ansteht. Bei der Fußball-EM in Deutschland 2024 war es nicht anders. Die Schweiz ist eine gastfreundliche Nation - und wir können feiern! Was auch daran liegt, dass wir uns selbst nicht so ernst nehmen.

teleschau: Wie voll werden die Stadien sein?

Kathrin Lehmann: Voll. Das ist schon mal ein Riesenerfolg vor dem ersten Spiel. Anfang Mai gab es nur noch rund 50.000 Karten fürs gesamte Turnier. Das Publikum wird ein bisschen anders sein als jenes vom letzten Jahr in Deutschland. Wir erwarten viele Familien. Viele Kantone haben darauf verzichtet, Restaurants und Kneipen eine kostenpflichtige Lizenz fürs Public Viewing zu verkaufen. Das bedeutet: Jeder kann die Spiele öffentlich zeigen. Es wird dazu beitragen, dass es ein großes Fest im ganzen Land stattfinden wird.

teleschau: Warum ist das Publikum beim Frauenfußball anders?

Kathrin Lehmann: Warum - das ist gar nicht leicht zu beantworten. Man kann das Frauenfußball-Publikum aber in seinen Eigenschaften erfassen. Wir wissen, dass es einen relativ hohen Bildungs- und Einkommensgrad hat. Frauenfußball bietet ein sehr sicheres Umfeld. Gewalt oder Aggression spielen keinerlei Rolle. Die Atmosphäre ist friedlich. Es sind gemütliche Menschen, die kommen. Menschen, die guten Sport sehen wollen. Dazu sind die Spielerinnen nahbar, sie haben mehr Interaktion mit den Fans als männliche Profis. Frauenfußball ist herzlich - selbst auf internationalen Top-Niveau wie bei einer EM.

"Die Umgangsformen von Frauen sind andere - auch beim sportlichen Wettbewerb"

teleschau: Nicht nur die Fans sind anders, auch das Verhalten der Spielerinnen auf dem Platz unterscheidet sich von jenem männlicher Profis. Es gibt kein Streiten, Lamentieren und Fordern. Warum ist das so?

Kathrin Lehmann: Das Miteinander oder auch Gegeneinander wird von Frauen anders gelebt. Damit sage ich nicht, dass Frauen besser sind als Männer, aber die Umgangsformen sind andere - auch beim sportlichen Wettbewerb. Ich glaube aber, dass je mehr Geld involviert ist und je wichtiger die Spiele im Verlauf eines Turniers werden, desto mehr werden wir Varianten männlichen Verhaltens auch bei uns auf dem Platz sehen. Dass die Gefoulte mal zwei oder drei statt einer Rolle auf dem Boden mitnimmt, um die Schwere des Fouls zu unterstreichen. Dennoch ist Frauenfußball anders. Was auch daran liegt, dass das Publikum eine andere Emotion von draußen einbringt. Dies muss sich der Frauenfußball auf jeden Fall bewahren.

teleschau: Kommen wir zum Turnier. Wie weit kommt die Schweiz, wie weit kommt Deutschland?

Kathrin Lehmann: Die Schweiz kommt ins Viertelfinale. Dann kann es gut sein, dass Spanien wartet. Da bräuchten wir sehr viele Kuhglocken, um eine Chance zu haben (lacht). Die Schweiz ist ein junges Team,und wir sind mindestens fünf Jahre hinter der deutschen Bundesliga hinterher. Die großen Teams in der Schweiz haben ein bisschen geschlafen, was die Entwicklung im Frauenfußball betrifft. Erst mit der Vergabe der EM hat sich eine Aufbruchsstimmung ergeben. Deutschland rechne ich zu den Turnierfavoritinnen.

teleschau: Wer sind die anderen?

Kathrin Lehmann: Im europäischen Frauenfußball haben wir die Top 4: England, Spanien, Frankreich und Deutschland. Trotzdem glaube ich, dass wir zwei Überraschungen erleben werden: Nur zwei der vier großen Nationen sehe ich im Halbfinale. Bei den Engländerinnen bin ich skeptisch, ob sie den Erfolg von der letzten EM wiederholen können. Es ist ein Team, das man gut dechiffrieren kann. Sie müssten sich ein Stück weit neu erfinden, um erfolgreich zu sein, glaube ich.

"Es wird das Turnier der Stürmerinnen"

teleschau: Und die andere Überraschung?

Kathrin Lehmann: Die Spanierinnen. Natürlich fantastische Spielerinnen, ein tolles Team. Ihr WM-Triumph war beeindruckend. Doch all die Nebengeräusche samt Streik und der Kampf dieser Frauen auf und neben dem Feld. Das hat wahnsinnig viel Energie gekostet. Sie sind fast schon zum Siegen verdammt, um noch einmal im spanischen Verband etwas bewirken zu können. Das ist sehr schade.

teleschau: Kommen wir zu Deutschland. Viele sagen, die Mannschaft sei eine Wundertüte ...

Kathrin Lehmann: Ich glaube, Deutschland wird eine gute Rolle spielen. Sie kommen mit dem Frust des verlorenen EM-Finales vom letzten Mal. Danach gab es das WM-Aus. Die olympische Bronzemedaille war großartig, das absolute Maximum damals - und doch wurde der Erfolg von der Öffentlichkeit ein bisschen klein geredet. Bei diesem Turnier gibt es eine große Skepsis der Deutschen gegenüber dem eigenen Team. Eben das kann eine enorme Motivation darstellen. Zusammen mit der großen Turniererfahrung, die Trainer Christian Wück mitbringt, könnte es ein Schlüssel zum Erfolg sein.

teleschau: Gibt es neue Entwicklungen beim Frauenfußball, die das Spiel betreffen? Entwicklungen, über die man reden sollte?

Kathrin Lehmann: Ich sehe die größte Entwicklung derzeit bei der Athletik. Es gibt viele unglaublich schnelle Spielerinnen. Mein Tipp ist: Es wird das Turnier der Stürmerinnen. Wir werden viele Tore sehen, bei denen die Angreiferin 40 Meter oder mehr alleine zurücklegt und ihren Schnelligkeitsvorteil ausnutzen wird. Der Unterschied zwischen den schnellsten Spielerinnen und dem Durchschnitt ist viel größer als im Herrenfußball.

"Mit zehn Jahren konnte ich alle Busfahrpläne meiner Region auswendig"

teleschau: Als aktive Sportlerin waren Sie selbst Fußball-Torhüterin und beim Eishockey Stürmerin. Beides auf Top-Niveau. Eine unglaubliche Leistung, für die man welches ungewöhnliche Talent braucht?

Kathrin Lehmann: Danke. Bei mir sind einige günstige Dinge zusammengekommen. Im Fußballtor benötigt man Maximal- und Schnellkraft. Auch Eishockey ist eine Maximal- und Schnellkraft-Sportart. Alles, was ich trainiert habe, war für beides nützlich. So kann man die Doppel-Karriere grundsätzlich erklären. Bei der Nordischen Kombination mit Skisprung und Langlauf muss man beispielsweise völlig unterschiedliche Dinge trainieren und können. Im Feld hätte ich beim Fußball keine Chance gehabt. Dazu kommt: Die physische Belastung im Tor ist geringer. Da bleiben noch ein paar Körner fürs Eishockey übrig (lacht).

teleschau: Waren Ihnen beide Sportarten immer gleich wichtig? Oder haben Sie mal überlegt, das eine zugunsten des anderen aufzugeben?

Kathrin Lehmann: Ich habe mit vier Jahren angefangen, Eishockey zu spielen. Mit neun kam der Fußball hinzu. Ab meinem 14. Lebensjahr kamen die internationalen Spiele. Ich habe einfach beides immer weiter gemacht, weil es mir Freunde bereitete. Und ich habe immer in Städten gelebt, wo beides möglich war.

teleschau: Hat die Selbstverständlichkeit, mit der sie Ihre Doppel-Karriere verfolgt haben, damit zu tun, dass Ihre beiden Eltern Sportlehrer sind?

Kathrin Lehmann: Natürlich war Sport positiv besetzt in meiner Familie. Trotzdem hätten mich meine Eltern auch unterstützt, wenn ich Briefmarken gesammelt hätte. Sie sagten immer: 'Such dir etwas aus, das du gerne machst. Aber denke daran, wir haben nur ein Auto und du hast noch zwei Brüder. Einmal pro Woche fahren wir jeden von euch ins Training. Den Rest müsst ihr selbst machen.' Mit zehn Jahren konnte ich auf jeden Fall alle Busfahrpläne meiner Region auswendig.

"Der Fußball wollte mir das Eishockey immer verbieten"

teleschau: Haben Sie von Ihren Eltern ein besonderes sportliches Talent geerbt?

Kathrin Lehmann: Mein Vater war ein großer Kunstturner. Auch ich habe zwischen neun und 13 Jahren geturnt. Die Bewegungsvielfalt war das Fundament meiner Karriere. Wer seinen Körper am Boden, stehend und in der Luft kontrollieren kann, sieht andere Lösungen. Ausnahmeathleten wie Roger Federer, Steffi Graf, Manuel Neuer oder Felix Neureuther würden wahrscheinlich etwas Ähnliches sagen. Das sind Bewegungstalente, die wären bei fast jeder Sportart oben mit dabei.

teleschau: Für Sie stand nie zur Debatte, mit einer Sportart aufzuhören - wie andere Topathleten?

Kathrin Lehmann: Für mich stand es nie zur Debatte. Es war aber auch eine andere Zeit. Heute hat auch der Frauenfußball so viele Termine, da könnte man parallel nicht noch was anderes trainieren und spielen. Dennoch habe ich auch zu meiner Zeit auf viel Geld verzichtet - weil ich mit dem Eishockey nicht aufhören wollten. Der Fußball wollte mir das Eishockey immer verbieten. Doch ich habe darauf bestanden und mir immer die Playoffs oder die Eishockey-WM immer in die Fußball-Verträge mit reinschreiben lassen.

teleschau: Sie arbeiteten lange an der TU München als Wissenschaftlerin. Dies haben Sie mittlerweile zugunsten einer eigenen Sportagentur aufgegeben. Was hat Sie als Forschende und Lehrende an der Uni interessiert?

Kathrin Lehmann: Unter anderem Bewegungsvielfalt und was sie uns Menschen bringt. Natürlich habe ich auch andere Sachen gemacht. Ich war am Lehrstuhl für Sportdidaktik und Sportpädagogik und habe dazu ein paar hohe Trainerlizenzen erworben. Ich musste mich ein Leben lang rechtfertigen, warum ich zwei Sportkarrieren verfolge. Jeder, der sich mit Sportpädagogik auskennt, sagt, dass Bewegungsvielfalt der Schlüssel zu einem gesunden und glücklichen Leben ist. Wenn es dann aber im Leistungssport ans Training geht, ist dieser Vorsatz vergessen. Alle predigen es, keiner macht's. Ich habe mir es nicht nehmen lassen.

"Es gibt das Phänomen, dass Frauen Ü-30 kaum noch Teamsport betreiben"

teleschau: Wie sieht Ihr jetziges Leben mit Agentur aus?

Kathrin Lehmann: Zum einen rechne ich darüber meine Tätigkeit als Expertin und auch Vorträge ab. Ich veranstalte aber auch Trainingscamps für Mädchen und Frauen im Eishockey und im Fußball. Mein Ziel ist es, den Teilnehmenden mit sehr guten Trainerinnen und Trainern neue Impulse zu geben. Sehr gute Trainer fehlen oft im Breitensport. Ein anderes Ziel, das mir sehr wichtig ist: Frauen über 30 zurück zum Sport zu bringen. Es gibt das Phänomen, dass Frauen Ü-30 kaum noch Teamsport betreiben können, weil jegliches Angebot fehlt.

teleschau: Können Sie das erklären?

Kathrin Lehmann: Es fehlt die komplette Infrastruktur. Alle reden von Mädchen, Mädchen, Mädchen. Das ist super, aber was ist mit erwachsenen Frauen, die Teamsport machen wollen? Es gibt zwei typische Dropout-Alter im Teamsport. Zum einen bei Mädchen und Jungs zwischen 16 und 18 Jahren. Das zweite kritische Alter sind Frauen mit 28. Ab diesem Alter fehlen Frauen als Spielerinnen, Schiedsrichterinnen, Trainerinnen. Mein Ziel ist es, Frauen Ü-30 den Teamsport zurückzugeben.

Das könnte dir auch gefallen


Trending auf SWYRL