23.05.2025 von SWYRL/Maximilian Haase
Vorurteile, Verrohung, familiäre Abgründe: Im neuen Rostocker "Polizeiruf 110: Böse geboren" gerät ein junger Außenseiter unter Mordverdacht. Der tiefschürfende Krimi zeigt, wie Gewalterfahrung einen Menschen prägt - und fragt, ob man schon als Mörder auf die Welt kommen kann.
Abgehauene Väter, schlagende Männer, drogenabhängige Teenager: Dysfunktionale Familien scheinen eine Art Spezialität des Rostocker "Polizeirufs" zu sein. Nach dem schmerzvollen Abschied von Charly Hübner alias Kommissar Bukow vor drei Jahren ermittelt sich Katrin König (Anneke Kim Sarnau) mit der längst etablierten Nachfolgerin Melly Böwe (Lina Beckmann) an der Ostsee munter weiter durch verwandtschaftliche Abgründe. So auch im aktuellen Fall "Böse geboren", in dem es die Kommissarinnen nicht nur mit privatem Familienstress, sondern auch mit einem rätselhaften Mutter-Sohn-Duo zu tun bekommen, das nach dem Mord an einer jungen Frau ins Visier gerät. Schnell geht es bei der Suche nach dem Täter auch um die großen Fragen: Woher kommt die Gewalt - und was macht sie mit einem? Und kann ein Mensch bereits als Mörder auf die Welt kommen?
Zunächst scheint es im 29. Rostocker Fall aber um die im hiesigen Krimigenre überaus beliebte Jägerei zu gehen: Eine als hinterwäldlerisch ins Skript geschriebene Jägerfamilie um den jungen Paul (Jonathan Lade) muss sich mit nicht minder klischeehaften Tierschützern ("Menschen sind so scheiße") und Wilderern herumschlagen. Als eine junge Aktivistin erschossen im Wald aufgefunden wird, deutet alles auf eine Eskalation ("Es ist Krieg"): War es Rache für einen abgesägten Hochstand, der einen der Jäger in den Rollstuhl brachte? Sätze wie "man müsste diese Kriminellen alle erschießen" entlasten da eher nicht.
Bald stoßen die Ermittlerinnen jedoch auf den seltsamen Milan und dessen Mutter Eva Greuner, die ihren Sohn im Haus am Waldrand von der Außenwelt abschottet. Der fürchterliche Grund dafür wird den Krimi nach einem Drehbuch von Catharina Junk und Elke Schuch prägen: Milan ging aus einer Vergewaltigung hervor, sein Vater war ein mehrfacher Frauenmörder. Für viele steht deshalb fest: Nur er kann es gewesen sein.
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"Manchmal habe ich richtig Angst vor ihm"
Das herausragend besetzte Mutter-Sohn-Gespann trägt diesen erschütternden Krimi fast im Alleingang: Eloi Christ als soziopathischer junger Außenseiter voller Wut im Bauch, eine fantastische Jördis Triebel als verunsicherte Mutter, die an der Unschuld ihres Sohnes zweifelt und auch mal mit dem Kissen vor ihrem schlafenden Kind steht: "Manchmal habe ich richtig Angst vor ihm", sagt sie über den Jungen, der mit dem Gewehr auf Menschen zielt und natürlich auch noch Gruselbilder malt. Überhaupt prägt den Film eine Psychothriller-Atmosphäre wie aus dem Bilderbuch: Kühle Bilder von düsteren Wäldern, bedrohliche Stimmung, zerschossene Schaufensterpuppen, dazu die gewohnten Good Cop/Bad Cop-Vibes von König und Böwe. Die Rostocker Heide an der Küste, sie kann wunderschön und grausig zugleich sein.
"Das Töten steckt einfach in ihm drin", platzt es aus der Mutter an einer Stelle - "wie bei seinem Vater". Wurde Milan der Drang zum Menschentöten wirklich in die Wiege gelegt? Von "Verbrechergenen" spricht selbst der Verdächtige, woraufhin sich Böwe zu einer für die Zuschauer mitreißenden Aufklärung aufschwingt: "Es gibt keine Verbrechergene". Doch Ressentiments sind hartnäckig - auch das lehrt dieser klug aufbereitete Krimi. Die Geschichte setze "das Brennglas auf die Gefährlichkeit von Vorurteilen", erklärt Regisseur Alexander Dierbach. Und auch die Drehbuchautorinnen hat das Gefühl beeinflusst, "dass eine beunruhigende Verrohung um sich greift".
Ist der Junge Täter oder Opfer?
Für Hauptdarstellerin Lina Beckmann geht es darum, "wie schwer es ist, die Kette der Gewalt zu durchbrechen, wenn es einmal so etwas wie Missbrauch oder eine Gewalterfahrung gegeben hat". Ist der Junge mit seiner verstörenden wie Mitleid erregenden Geschichte tatsächlich Täter oder doch Opfer? Sensibel und spannend nähert sich der mit einem überraschenden Ende versehene Film den Ursachen und Folgen von Gewalt - und der Tatsache, dass man der über Generationen weitergegebenen Brutalität bewusst begegnen muss. Ist Blut wirklich dicker als Wasser, und was bedeutet das eigentlich in einem Mordfall?
Wie schmerzhaft die Konfrontation mit der Vergangenheit sein kann, erfährt derweil auch Böwe: Als ihre Tochter Rose (Emilie Neumeister) wissen will, wer ihr Vater ist, reagiert die Ermittlerin abweisend. Hat sie ebenfalls ein Geheimnis? Von der wie immer direkten König erfährt Rose zumindest etwas über ihren Onkel Bukow, den ehemaligen Rostocker Ermittler und Böwes Halbbruder: "Ist ein cooler Typ - und ein Arsch", sagt sie über den Ex-Kollegen und -Partner, der in diesem "Polizeiruf" für seine Abwesenheit ungewöhnlich präsent ist. Während optimistische Zeitgenossen hier durchaus Hinweise auf ein Wiedersehen herauslesen könnten, zeigt der vielschichtige und tiefschürfende Ostsee-Krimi abermals auf: Familie prägt uns in jeder Hinsicht - und wahrscheinlich für immer.