03.12.2025 von SWYRL/Maximilian Haase
Raus aus dem Knast - und wieder rein: Auch die zweite Staffel der genreübergreifenden Krimithriller-Serie "Asbest" überzeugt mit starken Charakteren, vielschichtigen Perspektiven und einer mitreißenden Story rund um den harten Gefängnisalltag. Diesmal spielen auch politische Interessen eine Rolle.
Drogenmafia, Clanstrukturen, Gewaltexzesse: Oft zeichnen die Nachrichten ein düsteres Großstadt-Bild, während die Popkultur das Gangsterleben bisweilen romantisiert. Doch wie geht es wirklich zu zwischen Plattenbau und Wettbüros? Wie sieht der Alltag von Kleinkriminellen und Großverbrechern aus, draußen und im Knast? Was ist überzeichnetes Klischee, was brutale Realität? Nach US-Vorbild nahmen sich zuletzt einige Serien des Themas an, allen voran die Clanserie "4 Blocks", die mittlerweile allerdings Konkurrenz hat: "Asbest" erzählte 2023 dreckig und dramatisch vom Dasein hinter Gittern und auf den Straßen Berlins. Wenn der so spannende wie vielschichtige ARD-Krimithriller nun in sechs neuen Folgen fortgesetzt wird, geht es abermals um das unerbittliche Gefängnisleben, aber auch um politsche Verschwörungen und die Unmöglichkeit, der Gewalt zu entkommen.
"Ich wollte nie ein Gangster sein" - so sprach es Hauptfigur Momo Kaval (Xidir Koder Alian) schon in der ersten Staffel der mitreißenden Serie. Doch dann brachte ausgerechnet die Familie den Teenager, der viel lieber Fußballprofi geworden wäre, in den Knast, um die Drogengeschäfte zu regeln. Dass man sich den dort herrschenden Gesetzen und der Brutalität kaum entziehen kann, zeigte die erste Staffel unter Regie von Kida Khodr Ramadan ebenso eindrücklich wie die Verwicklungen des Justizapparates in die illegalen Geschäfte. Gut gegen Böse - das gibt es hier, ganz in Tradition großer US-Serien wie "The Wire", nicht mehr. Das System ist korrupt, integer ist kaum jemand. Momo blieb nur das Mitmachen - und letztlich die geglückte Flucht.
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Jagd auf den Ausbrecher
Nun, zwei Jahre nach dem Cliffhanger, wird die Geschichte des unfreiwilligen Gangsters weitererzählt, diesmal unter Regie von Juri Sternburg und Olivia Retzer, die mit Ramadan zuletzt dessen andere Gangsterserie "Testo" inszenierte. Momo ist also auf der Flucht und wird zu allem Überfluss nun auch als Mörder gesucht, weil er bei seinem Ausbruch einen Wärter tötete. Ermittler Weiß (Jan Georg Schütte) und die für den Fall neu eingesetzte Sonderermittlerin Melnik (Deleila Piasko) eröffnen die Jagd.
Beauftragt sind sie vom ebenfalls neu eingeführten fanatischen Innensenator Köhler (Fabian Hinrichs), der nach dem Skandal um den JVA-Drogenhandel seinen Kopf aus der Schlinge ziehen will - und in "Law and Order"-Manier auf Sündenböcke setzt: "Da darf es keine Denk- und Sprechverbote mehr geben. Da muss jetzt auch mal mit dem Kärcher ausgemerzt werden in bestimmten Vierteln. Und wem das nicht passt, der kann gerne gehen." - Ablenken soll die aus dem echten Politdiskurs wohlbekannte Säuberungsfantasie auch von eigenen Verstrickungen. Polizei und Politik haben in diesem hoffnungslosen Szenario ihre Moralität und Autorität fast gänzlich verloren.
Und weil es in dieser tristen Welt, die der realen leider nicht so unähnlich ist, kaum mehr aufrechte Menschen gibt, will auch die eigene Familie Momo am liebsten wieder im Knast sehen. Allen voran Strippenzieher und Patriarch Ámar (Stipe Erceg), der nach den Ereignissen in Staffel 1 zusammen mit seinem Brutalo-Assistenten Hassan (Veysel Gelin) selbst im Gefängnis landet. Dort fordert er die Macht des "Kurden" (Kida Khodr Ramadan) heraus, der die Geschäfte beherrscht und nach draußen die Anweisung gibt: "Lasst den Krieg eskalieren". Drinnen hat er sich den unerbittlichen Aufseher Besic Untertan gemacht, den ein grandioser Clemens Schick zum spielsüchtigen, religiösen Sadisten macht. Seine fast unrealistische, dafür umso unterhaltsamere Figur kämpft sich "Tag für Tag weiter nach unten, bis er am Ende ist", so Schick.
Zwischen Geldwäsche und "Fight Club"
Draußen eskalieren derweil die Revierkämpfe. Abdul und Nabil (Maradona und Mohamed Akkouch) wollen das Geschäft übernehmen, während Momos Freundin und Bruder unerbittlich hineingezogen werden. Die Gewalt frisst sich durch das System, bei den Jüngsten fängt es an. Selbst Momos von Jasmin Tabatabai gespielte Mutter, die für ihren Sohn nur das Beste will und neben Knasttherapeutin Weber (Ann Sophie Heier) zu den wenigen empathischen Figuren der Serie gehört, schweigt lieber. Angst frisst Seele - und Moral.
Doch Momo kommt der Wahrheit näher: Wer hat seinen Vater vor zehn Jahren wirklich umgebracht? Zwischen den Dämonen der Vergangenheit und den Abgründen der Gegenwart finden sich für Momo nur selten Lichtblicke - "das macht ihn verletzlicher, aber auch spannender", so Rapper und Newcomer Xidir Koder Alian über seine Figur.
Bis dahin verschwinden Leichen, werden Gelder gewaschen und Skandale vertuscht, während im Knast ein "Fight Club" für zahlende Häftlinge eröffnet, ein Gangkrieg droht und großer Verrat begangen wird. Korruption und Nach-unten-Treten ist der Modus, mit dem Politik und Polizei dem Sumpf begegnen. Immer begleitet von der allgegenwärtigen Gewalt, die in "Asbest 2" zwar für actionreiche Szenen sorgt, aber mit schockierendem Realismus daherkommt.
Die brutale Inszenierung ist kompromisslos, aber kein Selbstzweck. "Mich interessiert daran weniger der Schockwert, sondern, dass Gewalt auch etwas über das Menschliche erzählt", so Regisseurin Olivia Retzer: "Über Grenzen, über Macht und Ohnmacht, über das, was passiert, wenn Regeln und Nähe neu verhandelt werden müssen".
Tiefer graben statt höher stapeln
"Asbest" sei für ihn immer auch eine "sehr introspektive Geschichte" gewesen, so Co-Regisseur Sternburg: "Ein Junge, der - unschuldig oder nicht - im Gefängnis zu dem wird, was die Gesellschaft schon immer in ihm gesehen hat". Deshalb habe er sich entschieden, "tiefer zu graben, statt nur höher zu stapeln". Was das konkret bedeutet, sieht man der zweiten Staffel an: weniger Held, mehr Mensch, mehr Trauma, weniger Klischee.
Es sind die Brüche, die "Asbest" aus der Krimithrillermasse abheben: Der Wärter, der sich verliert. Der Gangster, der sich fragt, ob er je anders hätte leben können. Gleichzeitig wirkt die zweite Staffel noch angespannter und atemloser, als könnte alles jederzeit in die Luft fliegen. In grau-greller Ästhetik pendelt die Story zwischen schroffer Straßensprache und sensiblen Charakteren, die sich dieses Leben allesamt nicht ausgesucht zu haben scheinen. Romantisiert wird das Gangsterleben hier keineswegs, auch wenn Klischees natürlich nicht ausbleiben. Und doch: "An vielen Stellen wollten wir die sowieso schon sehr Testosteron-geschwängerte Grundstimmung einer Männerknast-Story eher brechen", sagt Sternburg etwa über den herausragenden Soundtrack.
Ohne moralischen Zeigefinger
Mit einem beeindruckenden Cast, der bis in die Nebenrollen große Namen bietet, macht auch die zweite Staffel von "Asbest" die gebrochenen Biografien der Figuren sichtbar und blickt mit ihnen in die Abgründe von Verbrechen und Macht. "Kann sein dass du ein guter Junge warst und unschuldig, aber jetzt bist du es nicht mehr", sagt Uwe Preuß als Fußballtrainer mit großem Herz, und Detlev Buck kredenzt als langhaariger Knastphilosoph Weisheiten: "Der Mensch ist das einzige Tier, das sich gegenseitig in Käfige sperrt", sagt er und kassiert darauf nur ein abfälliges "Halt's Maul, Gandalf".
Ohne moralischen Zeigefinger und auf den Punkt zeichnet "Asbest" ein umfassendes Bild dessen, was schief läuft. Dass dabei der Spagat zwischen Gesellschaftsstudie und Krimiaction gelingt, ist im hiesigen Fernsehen eine Seltenheit. Umso bedauerlicher - wenn auch nachvollziehbar -, dass die auch in der Mediathek abrufbaren sechs Episoden linear nur zu nächtlicher Stunde zu sehen sind.



