Erinnerung an das "Sommermärchen" und das Phänomen Public Viewing

Als ein Ruck durchs Land ging: Die Wucht des Public Viewing

12.06.2024 von SWYRL/Frank Rauscher

Abertausende Menschen, die gemeinsam feiern und gebannt auf eine Leinwand starren: Diesen kollektiven Rauschzustand kennt man spätestens seit der WM 2006 im eigenen Land unter dem Namen "Public Viewing". Wenigstens ein kleines Comeback der damaligen Aufbruchstimmung würde dem Land zur EURO 2024 gut tun.

Fußball schaut man am besten im Stadion - oder bequem zu Hause auf der Couch. So war das mal - bis sich mit der unvergessenen Heim-WM 2006 auch das nachhaltig änderte: Das Massenphänomen Public Viewing, es wird in diesen Tagen, vor dem Start der EURO 2024, allenthalben in Erinnerung gerufen, manchmal geradezu beschworen. Stimmt ja auch: So schön wie damals war es in den 18 Jahren, die seither vergingen, nie wieder. Es fällt beim Blick auf die gesellschaftliche Gemengelage allerdings schwer, an ein Comeback der vom Fußball generierten Euphoriewelle zu glauben.

Heute darf man jedenfalls durchaus mit Wehmut auf eine Zeit blicken, in der manch ein Fußball-Event Züge eines Rockfestivals hatte und auf den Plätzen und Straßen, in den Biergärten und Fanmeilen eine bis dato kaum für möglich gehaltene Aufbruchstimmung entfacht wurde.

Auch weil damals nach einer längeren Regenperiode rechtzeitig zum Turnierstart wieder die Sonne schien: Ganz Deutschland jubelte sich urplötzlich in eine eigentümlich hibbelige Gemütslage hinein, was eine erstaunlich verbindende Wirkung entfaltete: Man trank, sang, feierte zusammen, man herzte sich, man heulte sich Schulter an Schulter die Seele aus dem Leib. Daheim beim Grillen, auf den Straßen, in den Kneipen und Biergärten und natürlich in all den Public-Viewing-Areas und Fanmeilen: Überall ging es in jenen Tagen um Fußball, und weil Social Media noch in den Kinderschuhen steckte, war alles ein bisschen freier und naiver, weil nicht jede kleine Peinlichkeit im Bild festgehalten und geteilt wurde. Kurzum: Alle staunten, wie cool dieses Land auf einmal war. Er fühlte sich gut an: die Gastfreundschaft, wie sich die Deutschen nach außen präsentierten, aber auch wie sie auf einmal zusammenhielten. Wer auf den Fanmeilen in Berlin oder auf der Leopoldstraße in München dabei war, wird die Atmosphäre nie vergessen.

Dem "Sommermärchen" war nicht umsonst auch eine politische Dimension zugeschrieben worden. Zwar wissen wir längst, dass all das leider nicht so langlebig war, wie man damals glaubte, doch nun, 18 Jahre später, unmittelbar vor dem Start der EURO 2024 (14. Juni bis 14. Juli), ist es keine Frage: Zumindest ein Hauch jener Aufbruchstimmung würde der in Teilen scheinbar hoffnungslos zerstrittenen Gesellschaft guttun. Fußball hat gewiss nicht die Macht, ein Land zu vereinen. Aber - siehe 2006 - er kann mit seiner einzigartigen Strahlkraft im allerbesten Fall für eine Weile das allgegenwärtige "Ich" wieder zum "Wir" werden lassen und den Wind in eine andere Richtung drehen. Friede, Freude, Schlaaand - das wär' doch was.

Doch wie gut stehen, abseits von der mit gebremster Euphorie begutachteten sportlichen Situation der Elf von Julian Nagelsmann, die Chancen dafür? Wieviel "Sommermärchen" ist angesichts der gedrückten Stimmung möglich?

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"Feierverlängerung" für die EM

2,7 Millionen Tickets wurden insgesamt für die 51 Spiele verkauft, natürlich nicht nur in Deutschland, sondern aufgeteilt auf alle 24 teilnehmenden Nationen. Alleine in der ersten von drei Verkaufsphasen verzeichnete die UEFA etwa 20 Millionen Ticketanfragen. Heißt: Die wenigsten Interessenten haben ein Ticket bekommen, die Arenen dürften voll sein. Und, die gute Nachricht, wer nicht ins Stadion kommt, kann trotzdem feiern, weil rund um die EM im ganzen Land endlich wieder diverse Public-Viewing-Events geplant sind, in vielen Großstädten wird es Events für tausende Fans geben.

Aber wir haben es mit einer UEFA-Veranstaltung zu tun, es gibt Statuten, und es ist für lokale Veranstalter und Gastronomen natürlich alles nicht ganz einfach. Die Regel Nummer eins der UEFA lautet: Alle Vorführungen von Spielen der EM außerhalb von häuslichen Umgebungen (Garten, Terrasse, Wohnung) werden als Public Viewing eingestuft. Wer im Restaurant, Biergarten oder Vereinsheim Fernsehgeräte laufen lässt oder eine Großbildleinwand aufbaut und weniger als 300 Gäste unterhält, muss keine UEFA-Lizenz beantragen. Sofern er auf die Erhebung von Eintrittsgeldern verzichtet (darunter können auch Maßnahmen wie Mindestverzehranforderungen sowie erhöhte Speise- und Getränkepreise fallen). Dann nämlich gilt die Veranstaltung als kommerziell und somit lizenzpflichtig. Beachten müssen Veranstalter zudem, ob sie Gebühren an die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (GEMA) entrichten müssen.

Natürlich muss sich jeder Veranstalter, ob großes oder kleines Public Viewing, an die Gesetze halten und zum Beispiel Hygienevorschriften oder die Lärmschutzvorgaben beachten. Bei Letzterem kam die Bundesregierung den Fußballfans entgegen: Das Bundesministerium für Umwelt lockerte die Bestimmungen, um den Fans ein unbeschwertes Fußballerlebnis zu ermöglichen. Normalerweise ist um 22 Uhr im Freien Schluss mit Jubeln - für die Zeit der EM gilt eine "Feierverlängerung" bis nach Spielschluss. Das ist sinnvoll: 26 Spiele starten erst um 21 Uhr (reguläres Spielende: 22.45 Uhr). Bei den K.o.-Spielen ab dem Achtelfinale, dann vielleicht mit Verlängerung und Elfmeterschießen, kann es Mitternacht werden, bis ein Sieger feststeht. "Wenn im Sommer bei uns die Europameisterschaft stattfindet, wollen viele Menschen gemeinsam Spiele anschauen, mitfiebern und feiern - und das gern auch draußen", ließ sich Bundesumweltministerin Steffi Lemke zitieren.

XXL-Events in Berlin und München

Kostenlose und frei zugängliche Public Viewing-Events sind unter anderem in Berlin am Brandenburger Tor und vorm Reichstagsgebäude, am Heiligengeistfeld in Hamburg, auf dem Stuttgarter Schlossplatz, dem Leipziger Augustusplatz, dem Mainufer in Frankfurt oder dem Nordsternpark in Gelsenkirchen geplant. Auch in Düsseldorf (Schauspielhaus, Burgplatz und Rheinufer), Köln (Heumarkt und Tanzbrunnen) sowie in Dortmund (Friedensplatz und Westfalenpark) gibt es Fanfeste mit Mega-Leinwänden. In München soll der Olympiapark wie schon 2006 zum Mekka der Fans werden. Wieder ist die 120 Quadratmeter große Leinwand, die auf dem Olympiasee vor den Rasenstufen installiert wird, das Herzstück eines Events, das noch viel mehr als "nur" Fußball zu bieten hat. Olympiapark-Chefin Marion Schöne betont: "Sport funktioniert nicht mehr ohne Events drumherum. Die Fans wollen vorher und nachher feiern."

Die "Fan Zone" ist vom ersten Turniertag an von 13 Uhr bis eine Stunde nach Spielende geöffnet. Wenn "das Wetter und die Leistung der deutschen Mannschaft passen", wird bei Bayerns größter Fußball-Party mit insgesamt einer Million Menschen gerechnet. Allerdings: Aus Sicherheitsgründen dürfen nur 30.000 Besucherinnen und Besucher gleichzeitig auf das Gelände.

Die, wie in Medienberichten kolportiert wurde, "Mutter aller Fanmeilen" befindet sich, genau wie vor 18 Jahren, in Berlin: Das Brandenburger Tor soll laut Veranstalter in das "größte Fußballtor der Welt" verwandelt werden: Vor der Sehenswürdigkeit wird ein Fußballtor aufgebaut, das gleichzeitig als Bildschirm fungiert. Auf der Straße des 17. Juni wird grüner Rasen ausgerollt. Alles angerichtet für die perfekte Stimmungswelle.

2006: Als die Deutschen mit ihren Gästen durch die Parks und Straßen tanzten

Was war das schön vor 18 Jahren! Es dauerte eine Weile an jenem sonnigen Nachmittag des 9. Juni 2006, bis die Münchner wirklich begriffen, was die im Radio schon seit Stunden gesendeten Verkehrsmeldungen zu bedeuten hatten. Erst die Fernsehbilder machten das Ausmaß fassbar: Nichts ging mehr im Umfeld des Olympiageländes, wo eine gigantische Leinwand aufgebaut war. Dort entwickelte sich im Laufe des WM-Eröffnungstages nur ein paar Kilometer von der Allianz Arena, dem Austragungsort der Auftaktpartie Deutschland - Costa Rica, entfernt, eine wahre Massenhysterie. Das Fest nahm seinen Lauf - international, bunt, jung und friedlich.

Mit einem Mal ging ein Ruck durchs Land - mitbegründet vom erfrischenden Auftreten der deutschen Mannschaft unter Jürgen Klinsmann und befeuert vom rechtzeitig einsetzenden Sommerwetter. Seit diesen Tagen kennt jedes Kind den Scheinanglizismus, der für die öffentliche Liveübertragung von Sportereignissen auf Videowänden in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen wurde (im amerikanischen Englisch bezeichnet der Begriff eigentlich die Aufbahrung eines Verstorbenen, die Briten benutzen ihn gar nicht). Und seither weiß auch jeder, was eine "Fanmeile" ist und dass das "Sommermärchen" keine Geschichte der Gebrüder Grimm ist. Der positive, eben auch von Offenheit und Willkommenskultur geprägte Konsens, der die Deutschen 2006 mit ihren Gästen aus aller Herren Länder in den Straßen und Parks tanzen ließ, ist heute nur noch eine schöne Erinnerung.

Der Auftrag an die Nationalmannschaft (und an den Wettergott) ist also klar. Aber wie funktioniert so eine Euphoriewelle eigentlich? Der Psychologe Michael Thiel nennt es den "Halo-Effekt": "Der Erfolg der Mannschaft überträgt sich Schritt für Schritt quasi auf alle, auf eine ganze Gesellschaft." Der Schalter werde im Kopf eines jeden Einzelnen umgelegt: "Er fühlt sich als Teil des Erfolges und ist bestärkt, weil er überzeugt ist, selbst seinen durchaus entscheidenden Beitrag geleistet zu haben." Die Bilder von den Fanfesten im Fernsehen und natürlich zigtausendfach auch in den Sozialen Medien täten dann ein Übriges, um die Welle durchs Land schwappen zu lassen.

Beim Erlebnis Public Viewing gehe es "vor allem darum, dass man sich - eher unterbewusst - als wesentlichen Teil der Veranstaltung wahrnimmt: Ich bin nicht nur der passive Zugucker vor der Großbildleinwand, sondern es ist mein Ereignis. Ohne mich würde es dieses Fest gar nicht geben!" Und, so Thiel: "In der Euphorie ticken wir eben alle irgendwie gleich." Die Effekte reichten bis in die Wirtschaft hinein.

In Talkshows wurde damals viel über die neue Lebensfreude der Deutschen schwadroniert, und natürlich wurde nebenbei ausdiskutiert, ob denn dieser neue Patriotismus gesund ist - Autofähnchen fanden seitdem vor jedem Fußballturnier reißenden Absatz. "Die Nachkriegszeit ist ab sofort beendet." - Behauptete 2006 "Bild"-Kolumnist Franz Josef Wagner.

Einer der Euphorie-Treiber war bei allen Turnieren seither Deutschlands größte Fanmeile am Brandenburger Tor: Die Straße des 17. Juni wurde zur Partymeile umfunktioniert. Schätzungsweise 300.000 Menschen hatten 2006 zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule, im Epizentrum der allgemeinen Hochstimmung, das Eröffnungsspiel der Fußball-WM auf mehreren Großleinwänden live mitverfolgt. Bei der Achtelfinalbegegnung zwischen Deutschland und Schweden waren es 750.000. Die Messlatte liegt hoch.

UEFA bietet Übersicht

(Die wichtigsten Infos gibt es unter de.uefa.com/euro2024/news/0289-1a05831c0dbd-0a7f4223a132-1000--public-viewing-bei-der-uefa-euro-2024/)

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