Polizeiruf 110: Der Dicke liebt - So. 21.04. - ARD: 20.15 Uhr

Nach dem Untergang - Krimis aus einem verblichenen Land

16.04.2024 von SWYRL/Eric Leimann

Drei Jahre musste man auf ihren zweiten Einsatz warten: Die Kommissare Henry Koitzsch (Peter Kurth) und Michael Lehmann (Peter Schneider) ermitteln im "Polizeiruf 110: Der Dicke liebt" aus Halle im Fall eines vermissten Mädchens. Ein schmerzhaftes, präzises Krimi-Opus mit wiederum viel DDR-Flair.

Der "Polizeiruf 110: Der Dicke liebt", ein neuer Fall aus Halle, ist etwas für Menschen mit exzellentem Krimigedächtnis. Im Mai 2021 debütierten die Ermittler Henry Koitzsch (Peter Kurth) und Michael Lehmann (Peter Schneider) mit dem von der Kritik gefeierten "Polizeiruf 110: An der Saale hellem Strande". Der markierte nicht nur das 50-Jahre-Jubiläum des ehemaligen DDR-Kultformates. Nein, der Krimi erinnerte auch in seinem "look and feel" deutlich an den verblichenen Arbeiter- und Bauernstaat.

Die beiden Kommissare, ein alleinstehender schroffer Alkoholiker (Kurth) sowie ein empathischer Familienvater, der früher Krankenpfleger war (Schneider), mussten sich straffen, um einen offenbar sinnlosen Mord vor der Tür eines Kleine-Leute-Mietshauses aufzuklären. Auch nun, beim zweiten Einsatz von Koitzsch und Lehmann, kommt in der Geschichte nicht viel Heiterkeit auf: Die achtjährige Inka (Merle Staacken) wird vermisst. Erste Ermittlungen führen die Kommissare an die Schule des Mädchens. Dort wird der alleinstehende Mathematiklehrer Krein (Sascha Nathan) schnell zum Verdächtigen. Der übergewichtige Sonderling pflegt eine besonders herzliche, enge Beziehung zu seinen Kindern. Inka zum Beispiel gab er nach der Schule auch Nachhilfe.

Als deren Leiche in einer Kleingartensiedlung gefunden wird, gerät Lehrer Krein immer mehr unter Druck. An der Grundschule trifft Ermittler Koitzsch auf die stellvertretende Rektorin Monika Hollig (Susanne Böwe), mit der er sich in Folge eins gedatet hatte. Auch wenn man Lehrer Krein nichts beweisen kann, schnell macht ein Verdacht in der Nachbarschaft die Runde: Bei Krein handelt es sich um einen Pädophilen, der zugeschlagen hat. Eine Art Bürgerwehr formiert sich, um "den Dicken" zu stellen. Koitzsch und Michael Lehmann haben alle Hände voll zu tun, den Rechtsstaat und die Ordnung im Hochhausviertel aufrechtzuerhalten.

Nebenbei müssen auch sie mit der Trauer und dem Schmerz zurechtkommen, welche die Tat bei allen - überaus fein gezeichneten - Figuren des Krimidramas aus Halle auslöst. Während Lehmann, gläubiger Christ und Vater dreier Kinder, mit seiner Frau (Sophie Lutz, die schon im Bremer "Tatort" aus der Vorwoche eine Hauptrolle spielte) das traumatische Ereignis aufarbeitet, greift Alleingänger Henry Koitzsch mal wieder zum Flachmann. Oder er erinnert sich mit den anderen "alten Recken" wie Gerichtsmediziner Reinhold (Andreas Leupold) und dem pensionierten Thomas Grawe (DDR-Krimilegende Andreas Schmidt-Schaller in einer Gastrolle) an den "Tag des Volkspolizisten", der übrigens am 1. Juli gefeiert wird.

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Spät heimatlose Ostdeutsche und ihre Erinnerungen

Warum hat es nur so lange gedauert, bis der MDR Folge zwei seines außergewöhnlichen, vor allem aber außergewöhnlich guten "Polizeirufs" aus Halle fertigstellen konnte? Die Antwort dürfte bei den Machern selbst liegen. Autor Clemens Meyer erschafft nebenbei gefeierte Literatur, sein Roman "Im Stein" stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Mit Regisseur Thomas Stuber arbeitet Meyer auch fürs Kino ("In den Gängen" mit Sandra Hüller). Vor allem aber ist das Leipziger Duo bekannt für seine sorgfältige Arbeitsweise, die nun mal eben Zeit braucht. "Der Dicke liebt" erzählt wie auch Fall eins von einem bitteren, anscheinend sinnlosen Mord im Milieu einer Kleine-Leute-Nachbarschaft. Wohl nicht ganz zufällig das Kern-Setting, für das auch die bodenständigen, in Sachen Kriminalistik detailverliebten Verbrechen des alten DDR-"Polizeirufs" standen. Auch das neue Retro-Krimiwerk von Stuber und Meyer bewegt sich in diesem Genre und beobachtet seinen - mal wieder großartigen - Cast mit großer Empathie und Genauigkeit.

Jede Begegnung, jede menschliche Regung in diesem melancholischen Krimi über einen einsamen Lehrer, die Vorurteile gegen Außenseiter und den Kampf spät heimatloser Ostdeutscher um Erinnerungen und Identität ist ein Highlight in Sachen präzise Erzählkunst und Inszenierung. Natürlich ist der Mord an einem Kind schon oft in deutschen Krimi erzählt worden. Selten jedoch wurden die Beteiligten im Umfeld einer solchen Tragödie so genau in ihren Reaktionen beobachtet und schauspielerisch gezeichnet.

Bleibt zu hoffen, dass es nicht wieder drei Jahre dauert, bis Koitzsch und Lehmann ihren dritten Halle-Fall lösen. Und trotzdem: Eigentlich gehören die ARD-Krimis dieser beiden Ermittler samt Einsatzort direkt als Kunstwerke ins Museum. Vielleicht in den letzten Raum des 1981 eröffneten "Filmmuseum der DDR" (heute: Filmmuseums Potsdam). Dort könnt man sie unter der Rubrik "Nach dem Untergang - Krimis aus einem verblichenen Land" zeigen.

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