Spielfilm nach dem Fall Niels Högel

"Das weiße Schweigen" bei RTL+: Wenn der Retter ein Serienmörder ist

23.06.2022 von SWYRL/Eric Leimann

RTL+ zeigt einen Spielfilm über den Krankenhaus-Serienmörder Niels Högel (ab Dienstag, 28. Juni). In "Das weiße Schweigen" trägt er allerdings einen anderen Namen. Kostja Ullmann verkörpert den Täter und Julia Jentsch eine Krankenschwester, die den unfassbaren Taten auf die Schliche kommt.

Zwischen 2000 und 2005 soll der Krankenpfleger Niels Högel etwa 100 Patienten in Oldenburger und Delmenhorster Kliniken getötet haben. Das Schema eines der größten Serienmörder in der deutschen Nachkriegsgeschichte war dabei stets gleich: Högel, ein nach Anerkennung süchtiger Adrenalin-Junkie und Narzisst, brachte Patientinnen und Patienten durch Verabreichung von Medikamenten in Grenzbereiche zwischen Leben und Tod, um sich danach durch "beherztes" Eingreifen im Sinne einer Reanimation als Retter feiern zu lassen. Regisseurin Esther Gronenborn ("Ich werde nicht schweigen") und ihr Drehbuchpartner Sönke Lars Neuwöhner ("Tatort: Gier und Angst") legen nun die erste Fiktionalisierung des unfassbaren Stoffes beim Streamingdienst RTL+ vor. Mit Julia Jentsch, aus deren Perspektive als fiktive Krankenschwester und Kollegin des Täters erzählt wird, und Kostja Ullmann ist der knapp über 90 Minuten lange Film prominent besetzt.

Eine Generalkritik an Filmstoffen, die sich mit Verbrechen auseinandersetzen lautet zu Recht, dass fast immer Tätern und Ermittelnden zu viel Raum eingeräumt wird. Dass die Opfer und ihre Angehörigen, eigentlich Leidtragende von Verbrechen, erstaunlich blass und wenig greifbar bleiben.

Auch "Das weiße Schweigen" hätte der Faszination des Bösen erliegen können und die Figur des Niels Högel, im Film heißt er Rico Weber, in schillernd wahnsinnigen Farben zeichnen können. Doch das passiert nicht. Stattdessen lernt man ebenso wie die nach einer langen Babypause in den stressigen Job zurückkehrende Krankenschwester Clara Horn (Jentsch) einen ziemlichen Normalo kennen: Rico ist wenig Angeber und Aufreißer, auch ein Hauch toxische Männlichkeit ist zu spüren, doch vor allem lernt man einen beliebten Kollegen kennen. Einen, der lockere Sprüchen macht und auf der kardiologischen Station einer städtischen Klinik als absolutes Reanimations-Ass gilt. Wenn die Herzlinie der Patienten in Richtung null geht, ist Rico meist als Erstes da. Junge Stationsärzte überlassen gern dem Pfleger das Feld, wenn es in solchen Situationen ums Ganze geht.

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Sky-Doku "Schwarzer Schatten" verstört mehr

In der Sky-Doku "Schwarzer Schatten" wurde der Fall Högel im August 2021 schon mal in Form einer sehr stillen, aber gelungenen True Crime-Fährtensuche erzählt. Doch auch, wenn sie ein etwas anderes, stärker einzelgängerisches Bild von Niels Högel zeichnete: Wie auch jetzt in der Fiction-Adaption wird die Schuld nicht nur beim Täter und (betriebs)blinden Kolleginnen und Kollegen gesucht, sondern auch im System. Faktoren wie viel zu viel Stress beim Personal sowie ein streng auf Gewinnmaximierung und den "guten Ruf" des Hauses ausgerichtetes Gesundheitssystem tragen eine Mitschuld daran, dass auf Niels Högels oder Rico Webers Stationen das massenhafte Auftreten unerwarteter Notfälle und Tode keinen Verdacht auslösten. Beziehungsweise: Wenn ein solcher Verdacht aufkam, dafür steht Julia Jentschs Figur, dass dann eher dem Klarsichtigen Aggressionen und der Kameradenschwein-Vorwurf vorgeworfen wurden.

Julia Jentsch, die mit Arbeiten wie "24 Wochen", "Das Verschwinden" und natürlich "Der Pass" in den letzten Jahren eine schauspielerische Glanztat nach der anderen ablieferte, macht ihre Sache in "Das weiße Schweigen" gewohnt gut, ohne dass sie das zurückhaltende Drehbuch exorbitant glänzen ließe. Kostja Ullmann legt seinen "Todespfleger" bewusst oberflächlich und uneinsichtig an, eben auch, um den Täter nicht zu überhöhen. Nicht unbedingt eine Rolle, mit der man einen Oscar gewinnen kann, denn die Figur bleibt so trivial, wie sich auch die Rollenvorlage seinen Prozess-Gutachtern präsentierte: als uneinsichtiger, narzisstischer, dissozialer und zwanghafter Mörder.

Ein "Hardcore-Pfleger" habe er werden wollen, gab der mittlerweile lebenslang einsitzende Högel einem seiner psychiatrischen Gutachter zu Protokoll. "Das weiße Schweigen" erzählt eine an seine Geschichte stark angelehnte Fiktionalisierung im Sinne eines ordentlich gemachten Fernsehspiels. Es hat eine gewisse Spannung, ist gut gespielt und erzählt die Geschichte mit den richtigen Schwerpunkten. So verstörend wie die Spurensuche der über dreistündigen Doku "Schwarzer Schatten" ist die etwas brave Fiction-Variante der Högel-Morde jedoch nicht.

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