Über den Film "37°: Hass, Hetze, Gewalt"

"Regelmäßig Kackhaufen vor dem Tor": Schockierende Einblicke in den deutschen Politiker-Alltag

04.05.2022 von SWYRL/Aylin Rauh

Ein drastischer, mithin verstörender "37°"-Film erzählt von den Schattenseiten des politischen Alltags in Deutschland. "Beleidigungen sind schon eher normal", sagt René Wilke, Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder. "Nicht so schön ist, dass, bei mir zu Hause regelmäßig Kackhaufen vor dem Tor oder Sachen im Briefkasten sind."

"Hass, Hetze, Gewalt": Es wird schon nach wenigen Augenblicken klar, warum die TV-Journalistin Anja Michaeli ihren Film über die Schattenseiten des Politikeralltags in Deutschland so drastisch betitelt hat. In dem "37°"-Beitrag, der am Dienstagabend im ZDF ausgestrahlt wurde, werden gleich zu Beginn einige Mails und Social-Media-Kommentare vorgelesen, deren Inhalt und Wortlaut so widerwärtig sind, dass man sie hier lieber nicht noch einmal explizit rezitieren sollte. Manches ist kaum zu glauben, aber die traurige Wahrheit ist: Das, was in der 30-minütigen TV-Reportage, die noch in der ZDF-Mediathek bereitsteht, zu vernehmen ist, gehört offenbar längst zum Alltag für viele Politiker - ganz gleich, ob sie sich auf lokaler Ebene engagieren oder zum Berliner Politikbetrieb gehören, so wie Ricarda Lang, mit Omid Nouripour eine der Bundesvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen. Sie liest in Anja Michaelis Film Twitter-Kommentare vor, aus denen nicht nur der pure Hass, sondern auch Sexismus und Frauenfeindlichkeit der übelsten Art sprechen.

"Man fühlt sich manchmal schon so, als würde man alleine vor einer Mauer stehen. Die Mauer wird immer größer, man selbst wird immer kleiner!" - Es kommt nicht oft vor, dass Spitzenpolitiker vor laufender Kamera Emotionen abseits der politischen Debatten offenbaren. Aber Ricarda Lang kann beim Blick in die Kamera ihre Gefühle kaum zurückhalten. Es ist in jenen Augenblicken förmlich zu spüren, wie es in ihr arbeitet und wie schlimm sie der Alltag mitten im Shitstorm schon zu schaffen gemacht haben muss.

"Ich habe den Fehler gemacht, viele dieser Kommentare zu lesen und stundenlang vor meinem Handy zu sitzen", sagt sie nun. Sie habe "damit gerechnet, dass der Gegenwind inhaltlicher Natur sein würde", so die Politikerin. "Aber es kamen immer Hasskommentare - egal, wozu ich mich geäußert habe. Das hat mich echt schockiert." Mittlerweile erlebt die 28-Jährige täglich digitale Gewalt von anonymen Usern, allerdings nie persönlich: "Es macht was mit einem, wenn man so was nicht einmal am Tag, sondern einmal pro Stunde bekommt."

Neben Ricarda Lang begleitete Anja Michaeli auch den Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder, René Wilke (Die Linke) und Andreas Hollstein von der CDU über mehrere Monate hinweg durch den Wahlkämpfer- und Politikeralltag. Hollstein war zwischen 1999 und 2020 Bürgermeister der westfälischen Stadt Altena und wurde bundesweit bekannt, weil er vor fünf Jahren zum Opfer eines Messerangriffs wurde. Im "37°"-Film erzählt auch er sehr offen von Hass und Gewalt gegen seine Person. "Sie lassen mich verdursten und holen 200 Flüchtlinge nach Altena", sagte der Täter, bevor er den Politiker angriff.

Laut Hollstein begann der Hass gegen ihn mit Drohbriefen, die man eher als harmlos bezeichnen könnte. Doch der Hass entwickelte sich weiter, bald wurden sogar seine Kinder in der Grundschule beleidigt. "Wir wissen, wo deine Kinder zur Schule gehen. Pass auf, was du sagst", lautete nur eine der vielen Drohungen, die ihn erreichten.

Der Unmut gegen den Unions-Politiker spitzte sich zu, als er sich 2015 dazu entschied, mehr Flüchtlinge in Altena aufzunehmen, als geplant. Dafür erntete er nicht nur viel Lob und Zuspruch, sondern auch jede Menge Hass aus der rechten Szene. "Ich habe natürlich damit gerechnet, eines Tages einem Rechtsradikalen zu begegnen, der meinen Namen und mein Gesicht kennt - und ich mit Prügel rechnen muss. Meine Frau hat gesagt, dass ich aufpassen soll, und ich dachte mir, dass die Rechtsradikalen an einem kleinen Bürgermeister in einer kleinen Stadt schon kein Interesse haben", erinnert sich Andreas Hollstein. Doch es kam bekanntlich anders. Er wurde 2017 in einem Imbiss in der Nähe seines Hauses mit einem Messer angegriffen.

Abonniere doch jetzt unseren Newsletter.

Abonniere doch jetzt unseren Newsletter
Mit Anklicken des Anmeldebuttons willige ich ein, dass mir die teleschau GmbH den von mir ausgewählten Newsletter per E-Mail zusenden darf. Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und kann den Newsletter jederzeit kostenlos abbestellen.

"Beleidigungen sind schon eher normal"

"Das Thema ist sehr ernst. Wir haben drei Hauptfiguren, die das auf schlimmste Art und Weise erleben", antwortete Anja Michaeli im Interview mit der Nachrichtenagentur teleschau auf die Frage, ob sie mit dem Titel "Hass, Hetze, Gewalt" bewusst polarisieren wollte. Ihr Beitrag sagt viel aus über die viel zitierte Spaltung der Gesellschaft, über die Debatten, die von absoluter Unversöhnlichkeit gekennzeichnet sind. Den Versuch einer Ursachenforschung macht der halbstündige Film hingegen gar nicht erst.

Der Ursprung von "Hass, Hetze, Gewalt" bleibt unerklärbar. "Woher so viel Wut und Hass kommt, auf jemanden, der eine andere Auffassung hat und politisch woanders steht, kriege ich nicht zusammen", konstatiert in dem "37°"-Beitrag auch René Wilke, Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder. Bei ihm gingen die Beleidigungen und Angriffe schon mehrmals über das Verbale hinaus, schon öfter musste er die Polizei einschalten, sagt der Linken-Politiker. "Beleidigungen sind schon eher normal. Nicht so schön ist, dass, bei mir zu Hause regelmäßig Kackhaufen vor dem Tor oder Sachen im Briefkasten sind. Das ist nicht so prickelnd."

Ihm sei sehr wohl bewusst, bekennt Wilke (37), dass er mit einem Bein in der Öffentlichkeit steht und Zielscheibe für Hass werden kann. Immerhin habe er sich bewusst für die Politik entschieden. Allerdings gibt es für ihn auch eine ganz klare Grenze: wenn die eigene Familie in den Hass hineingezogen wird. In der Reportage verrät er auch, wie er "Hass, Hetze, Gewalt" begegnet: Er besucht die Täter zu Hause und stellt sie zur Rede. Ein Weg, der zwar mit Risiken und Gefahren verbunden ist, René Wilke aber nicht davon abhält, den Kontakt zu diesen Menschen zu suchen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

"Die wären viel zu feige, das jemandem ins Gesicht zu sagen"

"Viele Täter scheinen zu glauben, sie haben ein Gefühl von Macht, wenn sie auf andere losgehen, sie verbal angreifen und versuchen, kleinzumachen", vermutet Anja Michaeli. "Manche Täter wollen sich selbst erhöhen, verarbeiten vielleicht eigene Komplexe. Andere wissen jedoch ziemlich genau, wie sie es anstellen müssen, um auf Entscheidungsträger einzuwirken."

Besonders beeindruckt war die Filmemacherin von der Haltung ihrer Protagonisten: "Sie waren, wenn man das so sagen kann, erstaunlich unbeeindruckt. Sie sind alle sehr selbstsicher aufgetreten, deshalb sind auch alle noch im politischen Amt."

Auf die Frage, was die Politiker dazu antreibt, trotz Hass, ihren Beitrag für die Demokratie zu leisten, hat Anja Michaeli eine klare Antwort: "Die Überzeugung, dass sie von ihrem Umfeld und der Mehrheit der Gesellschaft getragen werden. Das sagen sie auch alle ganz deutlich im Film." Obwohl "Hass, Hetze, Gewalt" keineswegs spurlos an den Protagonisten vorbeigehen, engagieren sie sich weiterhin für das Land und halten an dem Ziel fest, ihren Beitrag zu einer funktionierenden Demokratie zu leisten.

"Viele dieser Kommentare, die man bekommt, sind teilweise lächerlich", sagt Ricarda Lang am Rande einer kleinen Wahlkampfveranstaltung in Hamburg. Sie wisse auch: "Die wären viel zu feige, das jemandem ins Gesicht zu sagen." Also denke man sich, so Lang, "dass man eigentlich zu klug und zu stark ist, als sich von solchen Kommentaren aus der Bahn werfen zu lassen. Es geht ihnen darum, Menschen wie mich, Frauen, Menschen, die nicht in ihr sexistisches und auch rassistisches Weltbild passen, mundtot zu machen. Und uns aus der öffentlichen Debatte herauszudrängen."

Wer den verstörenden, aber sehenswerten Beitrag verpasst hat: Die lange nachwirkende "37°"-Reportage ist in der ZDF-Mediathek zu sehen.

Das könnte dir auch gefallen


Trending auf SWYRL