"Markus Lanz - Schweden ungeschminkt"

Lanz-Doku über "schwedischen Sonderweg": "Wer Maske trägt, ist gegen das System"

12.03.2021 von SWYRL/Jens Szameit

Erschüttertes Vertrauen und ideologischer Streit: Markus Lanz fahndete in Schweden nach den Bruchstellen im Pandemie-"Sonderweg". Staatsepidemiologe Anders Tegnell konfrontierte er mit der Frage nach der Verantwortung für die vielen Toten.

Der Reporter aus Deutschland streift durch belebte Straßen - mit funkelnden Augen wie ein Kind an Heiligabend. "Wir sind solche Bilder nicht mehr gewohnt", spricht er eine Passantin mit Kinderwagen auf das rege Treiben in der Stockholmer Innenstadt an. Hell erleuchtete Läden, gut besuchte Bars und Restaurants. "Es ist toll, so was zu sehen! Aber wenn ich mir auf der anderen Seite Ihre Infektionsraten anschaue ..." Die junge Mutter nickt besorgt.

Einprägsamer kann man die Ambivalenz des "schwedischen Sonderwegs" durch die Covid-19-Pandemie wahrscheinlich nicht in einer Doku-Szene bannen, als es Markus Lanz in diesem am späten Donnerstagabend ausgestrahlten Film gelungen ist. "Schweden ungeschminkt" war die selbstauferlegte Mission des in ungezählten Corona-Talks gestählten ZDF-Moderators. Es ist eine Reise in ein Land, das den einen als Sehnsuchtsziel dient, den anderen als abschreckendes Beispiel. Darf der liberale Kurs als vorbildhaft gelten oder wurde "einfach versagt", wie Schwedens König Carl Gustaf niedergeschlagen kundtat? Darüber gibt es längst auch vor Ort eine erbitterte Debatte nebst Untersuchungsausschuss.

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"Schweden ungeschminkt": Markus Lanz stellt die Schuld-Frage

Was aber ist das eigentlich genau, der "schwedische Sonderweg", den man mit dem nördlichen Nachbarn schon fast so eng assoziiert wie ABBA, Elche und Ikea? Wissen muss das zuallererst der, der diesen Sonderweg seinen Landsleuten aufgezeigt hat, der schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell. "Wir bemühen uns nach Kräften, die Ausbreitung des Virus einzudämmen", erklärt der umstrittene Forscher dem Gast aus Deutschland - ohne Maske, die er beim Interviewtermin im Dezember 2020 nicht für notwendig hält. "Aber anstatt auf gesetzliche Maßnahmen zu setzen, reden wir mit den Menschen und versuchen sie davon zu überzeugen, dass Abstandhalten wichtig ist. Der Hauptunterschied liegt in der Methode, die wir verwenden, nicht in dem Ziel, das wir verfolgen."

Der deutsche Interviewer ist jedoch nicht unvorbereitet gekommen. Er kennt die Todeszahlen. Vor allem die aus den schwedischen Pflegeeinrichtungen. "Befürchten Sie nicht manchmal, eines Tages für die Todesopfer, insbesondere in den Altenheimen, verantwortlich gemacht zu werden?" Tegnell weicht aus mit einer Gegenfrage: "Werden Leute dafür verantwortlich gemacht, dass sie ein ganzes Land in den Lockdown schicken, enorme wirtschaftliche Verluste verursachen und verhindern, dass ihre Kinder eine Schulausbildung erhalten? Darüber sprechen wir viel zu wenig. Das könnte man auch verurteilen." Die große Mehrheit, glaubt Tegnell, stehe hinter den Maßnahmen. "Das ist nicht die Meinung eines Einzelnen. Das ist Schweden!"

Haben die Schweden einen Hang zur Selbstüberschätzung?

Wenn er sich da mal nicht täuscht. Auf seiner Reise von der Hauptstadt Stockholm rauf ins kalte Lappland und zurück sammelt Markus Lanz in seiner Doku ein Füllhorn an Stimmen, die von verlorenem Vertrauen künden. "Wir wollen uns einfach nicht eingestehen, dass wir zu den Ländern gehören, die weltweit am schlechtesten mit der Pandemie umgehen", sagt ein genesener Covid-Patient über seine Odyssee durch ein nicht angemessen vorbereitetes Gesundheitssystem. Die Gesellschaft ist zunehmend zerrissen. Die Maske ist ähnlich wie in Deutschland ein Symbol dafür geworden, auf welcher Seite man steht. Nur eben mit umgekehrten Vorzeichen.

"Sie müssen nur die Anzahl der Masken zählen, dann wissen Sie, wie beliebt die Regierung ist", ätzt der Journalist und Buchautor Jonas Jonasson sarkastisch. Der Allgemeinmediziner Stefan Hanson, den Lanz an anderer Stelle trifft, bestätigt das: "Wer Maske trägt, ist gegen das System." Die ganze Gesellschaft sei über die Frage gespalten. "Man kann darüber nicht reden. Sogar in den Krankenhäusern trägt niemand eine Maske. Es ist ideologisch." Der Arzt glaubt, der Hang der Schweden zur moralischen "Selbstüberschätzung" sei ursächlich dafür, dass man es auf Teufel komm raus anders handhaben müsse als der Rest der Welt. Erst recht seit Greta Thunberg: "Viele Leute glauben, wir machen es einfach besser."

"Alles hat seinen Preis"

Differenzierter holt im Gespräch der Historiker Lars Trägardh aus. "Wir haben in Schweden eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens - zwischen Bürgern, die dem Staat vertrauen, und einem Staat, der seinen Bürgern vertraut." Das sei von grundlegender Bedeutung. Und die Toten? "Alles hat seinen Preis", sagt der Geisteswissenschaftler. Man müsse ein Gleichgewicht finden zwischen den Werten Gesundheitsschutz und Freiheit.

Gescheitert ist Schweden aus Trägardhs Sicht dennoch - weil man sich die multiethnische, fragmentierte Gesellschaft naiv verklärt habe: "Man hat unterschätzt, wie schwierig es ist, all diese Menschen aus verschiedenen Kulturen mit ihren unterschiedlichen Einstellungen zu Staat, Familie, Arbeit und zu älteren Menschen zu integrieren." Tegnell und Ministerpräsident Stefan Löfven hätten mit ihrer Politik der Gebote statt Verbote "eine 50er-Jahre-Schweden-Version vor Augen gehabt. Wie es aber heute wirklich um Schweden bestellt ist, haben sie aus dem Blick verloren."

Markus Lanz: "Das Ende des Sonderwegs steht bevor"

Am Ende kommt Markus Lanz in seinem Film noch mal per Videoschalte auf Anders Tegnell zurück. Es ist inzwischen Januar. Schweden hat als Reaktion auf die zweite Infektionswelle zwischenzeitlich die weiterführenden Schulen geschlossen und neuerdings eine Maskenempfehlung für Busse und Bahnen ausgegeben. "Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Wirkung der Masken nicht sehr groß ist", redet Tegnell den Sinneswandel klein. "Aber manchmal können schon geringfügige Effekte ausschlaggebend sein."

Lanz hakt nach: Was würde Tegnell im Rückblick anders machen? Wieder kein direktes Eingeständnis, das Versagen liege hauptsächlich bei den Altenheim-Trägern. Die medizinische Versorgung in den Heimen sei seit Jahrzehnten "unzureichend". Im Subtext: nicht Tegnells Verschulden. Und wann wird die Pandemie überstanden sein? "Noch ein Jahr", glaubt der Staatsepidemiologe. "Dann werden wir damit leben können." Lanz: "Wird es jemals vorbei sein?" Tegnell: "Nein, ich glaube, wir werden mit diesem Virus leben müssen. Zumindest unsere Generation. Vielleicht sogar die nächste."

Das ist im Kern noch immer der "Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben"-Pragmatismus, den auch in Deutschland eine Virologen-Minderheit unverdrossen vertritt. Lanz' Reise-Fazit, das er in den Abspann seiner Doku spricht, aber fällt weniger gleichmütig aus: "Mit ihrem Alleingang haben die Schweden Mut bewiesen. Mit einem fatalen Einsatz von Menschenleben." Das Ende des Sonderwegs stehe bevor. "Das blitzsaubere Image: mehr als angekratzt."

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