12.05.2024 von SWYRL/Eric Leimann
Der jungen Mutter Eva (Friederike Becht) passiert das Schlimmste: Ihr Baby liegt morgens tot im Bettchen, Plötzlicher Kindstod. Weil ihr Mann (Hanno Koffler) auf einer Fortbildung weilt, ist Eva für Wochen allein. Unter Schock stiehlt sie ein anderes Kind - und lebt ihr altes Leben weiter.
Eigentlich müsste man diesen Film mit einem Warnsticker versehen: Nicht geeignet für junge Eltern! Trotzdem möchte man keineswegs abraten von dem intensiven Drama "Plötzlich so still" (2021), das die zweifache Mutter Friederike Becht ("Käthe Kruse") in absoluter Höchstform ihrer Schauspielkunst zeigt: Eva (Becht) und ihr Mann Ludger (Hanno Koffler) freuen sich sehr auf ihr erstes Kind. Doch kaum ist die kleine Sarah auf der Welt, muss Polizeipsychologe Ludger für einige Wochen zur Fortbildung in die USA.
Eine Riesen-Chance, die man trotz des schlechten Timings nicht sausen lassen darf, ist sich das Paar einig. Alleine mit ihrem Baby erlebt Eva eine intensive Zeit. Der erste Schnee fällt. Die frisch verliebte Freundin lässt sie in Sachen Unterstützung ein bisschen hängen. Kurze Nächte zehren an den Nerven. Eines Morgens wacht Eva deutlich später auf als sonst, denn Sarah hat sie nicht geweckt. Die Freude übers Ausschlafen währt nur kurz, denn Sarah gibt kein Lebenszeichen mehr von sich. Die Reanimation scheitert, Sarahs kleiner Körper bleibt leblos. Eva steht unter Schock. Sie versucht Ludger am Telefon zu erreichen. Doch der ist gerade auf einer sehr lauten Abschieds-Party und versteht kein Wort.
Vielleicht ist es jener Impuls, das Aufeinanderprallen zweier nicht vereinbarer Welten - Kindstod und Party ,- den es braucht, damit sich Evas Hirn und Seele eine alternative Realität bauen: Ihre Tochter liegt weiter im Bett oder wird herumgetragen. Eva geht einkaufen, besorgt Windeln. Im Parkhaus streift sie die alleinerziehende Stefanie (Nadja Bobyleva), die ihr Baby kurz im Auto zurücklässt, um Kleingeld für den Parkautomaten zu besorgen. Das Baby weint, und Evas erster Impuls ist, das Kind zu trösten. Plötzlich packt Eva das fremde Baby einfach ein und fährt mit ihm nach Hause. Das tote Kind landet in eine Decke gehüllt im Abstellraum, ab sofort nimmt das fremde Baby seinen Platz ein.
Einerseits weiß Eva, was sie getan hat. Andererseits ist ihre Tat, sind ihre Gefühle zu groß, als dass sie ihre neue Scheinwelt verlassen könnte. Eine Nagelprobe ist Ludgers Rückkehr aus den USA. Wird er das Baby nach Wochen der Abwesenheit als seines annehmen? Wie lange lässt sich Evas fragile Lüge noch aufrechterhalten? Das emotionale Werk wird nun bei 3sat zu später Stunde wiederholt.
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Unter der Schock-Glocke
Dass bei diesem Film sowohl Drehbuchautor (Matthias Wehner) als auch Regisseur (Lars-Gunnar Lotz, "Tage des letzten Schnees") männlich sind, erstaunt ein bisschen. Gerade der erste Teil des Films nimmt sich viel Zeit für die Mutter-Kind-Bindung. Die Kamera (Eva Katharina Bühler, "Tatort: Ein paar Worte nach Mitternacht") verweilt lange und sehr nah beim Alltag von Eva und ihrem Baby. Sie zeigt die Magie des neuen Lebens, der neuen Bindung, aber auch den harten Alltag des Sichkümmerns und der Anstrengung.
Diese erste Hälfte des Films, die Friederike Becht auf herausragende Weise trägt, ist nötig, um den Schock, das Versteckspiel und die Wendung hin zum Psychothriller in Hälfte zwei verstehen zu können. Eva lebt in einer Art Schock-Glocke, aber ihre neue Realität scheint zu funktionieren. "Alles, was sie tut, ist aus ihrer Sicht verständlich, von außen betrachtet jedoch teilweise schwer zu ertragen", sagt Regisseur Lars-Gunnar Lotz über seinen Film an der Genregrenze zwischen Psychodrama und Kriminalfall.
Natürlich könnte man kritisieren, dass das reine Drama gereicht hätte, und es wäre interessant zu wissen, ob Drehbuchautor Matthias Wehner, ein im Fernseh-Business bisher weitgehend unbekannter Geschichtenerzähler, mit seinem Stoff so ein bisschen hin zum Krimi gedrängt wurde - das erzeugt nämlich immer gleich die ein oder andere Million Zuschauer mehr - oder ob dies eine freiwillige Entscheidung war. Beides ist denkbar, denn eine gewisse Logik hat der Plot bei aller Dominanz des Psychodramas dennoch: Wo es ein gestohlenes Baby gibt, lebt eine zweite Mutter in Leid und befindet sich auf einer verzweifelten Suche - mithilfe der Polizei. Am stärksten bleiben von "Plötzlich so still" jedoch die Bilder des toten Babys haften - und auch ein bisschen das seltsame Gefühl des Fremdschämens, wenn man sich als Zuschauer fragt, ob man zusammen mit Eva erleichtert sein soll, dass sie - nach der Kindesentführung - nun wieder ein Baby hat.
So oder so ist dieser starke Film nichts für sensible junge Eltern. Vielleicht seit Pola Becks denkwürdigem Schwangerschaftsdrama "Am Himmel der Tag" von 2012, das Aylin Tezel in ihrer bis heute stärksten Rolle zeigt, hat man nicht mehr so sehr mit einer jungen Mutter im Fernsehen mitgelitten.