"Das eine Leben"

Westernhagens neues Album: Abkotzen für die Freiheit

20.05.2022 von SWYRL/John Fasnaugh

Er war früher mal der Prinz mit Pfefferminz, sang später "Es geht mir gut". Den Eindruck, dass es Marius Müller-Westernhagen uneingeschränkt gutgeht, hat man auf dem neuen Album "Das eine Leben" eher nicht. Aber "Freiheit" heißt eben auch, mal richtig abkotzen zu dürfen, wenn es sein muss.

"Freiheit, Freiheit ist das Einzige, was zählt ...": Marius Müller-Westernhagen konnte gut damit leben, als sein 1987er-Hit "Freiheit" zur Wiedervereinigungs-Hymne wurde. Aber als der Song 35 Jahre später von der Querdenker-Szene vereinnahmt und immer wieder bei Protestmärschen gespielt wurde, wollte er das nicht einfach so stehenlassen.

Der 73-Jährige postete als Reaktion darauf ein Foto von sich mit Impfnadel im Arm, schrieb dazu nur das Wort "Freiheit", damit war alles gesagt. Westernhagen war nie ein politischer Musiker, aber immer einer mit Haltung. Einer, der sagt, was er denkt. Das gilt, vielleicht mehr denn je, auch für sein soeben erschienenes neues Album "Das eine Leben" - kein "wokes" Love-and-Peace-Trallala, sondern ein grimmiges, unbequemes und komplett ungeniertes Spätwerk.

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Verstörter Blick eines weltgewandten Lebemanns

Schon die erste Single ließ aufhorchen. Westernhagen singt in "Zeitgeist" von Gott und "Botoxfresse", von der Belanglosigkeit der Kardashians und vom Hoffen auf ein gutes Ende. "Ich hab' gebetet, du hast getötet". Im Video zu "Zeitgeist" sieht man auf einer Leinwand Greta Thunberg, Donald Trump, Heidi Klum, Gerhard Schröder, Flüchtlingsmärsche, Müllberge, Krieg - und davor: Marius Müller-Westernhagen, der einen Moment lang wie erschlagen wirkt von den Bildern. Der verstörte Blick des weltgewandten Lebemanns, der eigentlich schon alles gesehen hat - er hat durchaus etwas Tröstliches.

Acht Jahre lang hat Westernhagen kein neues Studioalbum mehr aufgenommen. Jetzt, zwischen Pandemie und Krieg, tritt er grummelig aus seinem "aufblasbaren Himmelreich" ("Die Wahrheit"), um doch mal wieder frische Luft zu atmen, und ein bisschen auch, um uns die Leviten zu lesen. Mit lauten Gitarren und viel Soul.

"Hoch die Tassen, weiß, braun, schwarz, gelb und dumm"

"Ich will raus hier", der erste von elf Titeln auf diesem Album, setzt direkt den Corona-Haken. "Ich vermisse New York City, ich vermisse auch Paris / Ich vermisse Rom, so pretty, gottverdammte Pandemie". Westernhagen vermisst aber noch viel mehr. Zum Beispiel "Solidarität" und "Mitgefühl mit denen, die noch viel mehr leiden". Erste kleine Nadelstiche, es soll nicht dabei bleiben.

"Diese Platte befasst sich mit der deutschen Gesellschaft", erklärt Westernhagen über die Plattenfirma, und die deutsche Gesellschaft kommt dabei nicht sonderlich gut weg. "Rennt nur weiter, meine Schafe, tut eurer Fron im iPhone-Reich / Glaubt selbstverliebt an die schamlosen Lügen derer, die über die Macht verfügen", singt er in "Achterbahngedanken", und: "Hoch die Tassen, weiß, braun, schwarz, gelb und dumm / Lasst uns tanzen eine Polka".

Was will uns der Künstler sagen? In jedem Fall, das sind wiederkehrende Themen, dass wir zu viel am Smartphone hängen und langsam zu verblöden drohen ("Abhanden ging mir Eloquenz / Ich werde dir 'ne Whatsapp senden"). Dass wir unsere Zeit besser nutzen sollten, wir haben schließlich "nur das eine Leben". Dass er es nicht so hat mit Machtmenschen ("Spieglein, Spieglein an der Wand / Wer ist der Mächtigste in diesem Land?"). Und, ganz allgemein, dass die heutige Welt vielleicht nicht mehr ganz die seine ist.

"Werden wir den falschen Göttern abgeschworen haben?"

Westernhagen reflektiert sich selbst und seine Makel, Westernhagen blickt einigermaßen angewidert in die Welt hinaus, und nicht immer ist klar, was von diesen beiden Dingen gerade passiert. Aber hier wie da wird es regelmäßig verdammt düster. Etwa in "Dunkle Phantasien", einer abgründigen Alternative-Nummer irgendwo zwischen Tom Waits, Johnny Cash und dem späten Bob Dylan. "In deinen dunklen Fantasien siehst du dich einen Mord vollziehen", "In deinen dunklen Fantasien siehst du dich an den Feinden rächen / Und jede noch so böse Tat kostet dich nur ein müdes Lächeln". Nein, das ist definitiv nicht mehr der Westernhagen, der mal der Prinz mit Pfefferminz war und später so beschwingt "Es geht mir gut" sang.

Immerhin, Marius Müller-Westernhagen stilisiert sich selbst durchaus nicht als Erleuchteten unter all den Doofen, will kein allwissender Prophet sein, sondern bleibt lieber Künstler. Deshalb stellt er am Ende dieses nicht ganz leicht zu durchschauenden Albums auch lieber Fragen, statt Antworten zu liefern.

"Werden wir den falschen Göttern abgeschworen haben? Werden wir uns weiterhin am Scheitern anderer laben?" Oder auch: "Werden wir wieder vergessen, was wir uns schworen in der Not? Und uns nicht schämen, vollgefressen zu verdrängen, was uns droht?" Der Ausgang ist offen, Westernhagen hofft weiterhin nur das Beste, und auch wenn man vielleicht nicht alles auf diesem Album sympathisch findet: Mehr "Freiheit" als hier gibt es derzeit wahrscheinlich bei keinem anderen deutschen Musiker von diesem Format.

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