Jessy Wellmer über "Die Story im Ersten: Russland, Putin und wir Ostdeutsche"

"Viele Ostdeutsche haben den Eindruck, dass ihnen seit 30 Jahren niemand zuhört"

24.10.2022 von SWYRL/Elisa Eberle

Für "Die Story im Ersten: Russland, Putin und wir Ostdeutsche" begab sich die bekannte "Sportschau"-Modertorin Jessy Wellmer auf eine persönliche Recherchereise: In ihrer Heimatstadt Güstrow und anderen Städten wollte sie herausfinden, wie die Ostdeutschen wirklich über den Ukraine-Krieg denken. Ein Gespräch über alte und neue Konflikte im wiedervereinigten Deutschland.

Sie ist eines der bekanntesten Gesichter im deutschen Sportfernsehen: Jessy Wellmer moderiert seit 2014 regelmäßig die "Sportschau am Sonntag" (18 Uhr, das Erste). Sie war bei sportlichen Großereignissen wie der Fußball-Europameisterschaft 2021 und den Olympischen Winterspiele 2022 in Peking im Einsatz. Von 2018 bis 2019 war sie außerdem eine der Hauptmoderatorinnen vom "ARD-Mittagsmagazin".

Nun, mehr als ein halbes Jahr nach Ausbruch des Kriegs in der Ukraine widmet sich die 42-jährige Journalistin einem anderen Thema: Bei einer Reise in ihre Heimatstadt Güstrow, einer Kleinstadt im heutigen Mecklenburg-Vorpommern, sowie in anderen ostdeutschen Städten wollte sie mehr über die Verbindung der ostdeutschen Bevölkerung mit Russland und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin erfahren. Die so entstandene Reportage "Die Story im Ersten: Russland, Putin und wir Ostdeutsche" von Jessy Wellmer und Falko Korth ist am Montag, 24. Oktober, um 20.15 Uhr, im Ersten zu sehen. Auch in der direkt anschließenden Polit-Talkshow "Hart aber fair" mit Frank Plasberg ist Jessy Wellmer zu Gast.

Im Interview spricht die zweifache Mutter über ihre Sorgen angesichts des Ukraine-Kriegs, aber auch der immer größer werdenden Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland. Außerdem verrät sie, wie sie versucht, im privaten Umfeld zwischen unterschiedlichen Meinungen zu vermitteln.

teleschau: Wie sah Ihr persönliches Bild von Russland vor dem 24. Februar 2022 aus? Und wie hat sich dieses Bild in den vergangenen Monaten verändert?

Jessy Wellmer: Ich bin während des Confed Cups 2017 dort herumgereist, hatte als Studentin St. Petersburg besucht. Aber darüber hinaus hatte ich kein enges oder persönliches Verhältnis zu Russland. Mir ging es wie vielen. Die Berichte über Unterdrückung, Oppositionelle in den Lagern, über politische Morde und auch über russische Desinformation haben mich schockiert. Putin war für mich ein Macho-Modell aus einer vergangenen Zeit. Die Menschen in Russland habe ich immer bedauert, weil das System ja immer weiter zugemacht und den Russen immer weniger Freiheiten gelassen hat. Und mir war die Darstellung des "bösen Russen" immer zu eindimensional. Denken Sie nur an all die sadistischen, russischen Massenmörder aus den James-Bond-Filmen. Ich wollte unbedingt vermeiden, dass meine Kinder dieses gelernte Klischee übernehmen. Was seit dem 24. Februar passiert ist, hat auch mich fassungslos gemacht. Und ich bin überzeugt, dass wir da nicht unparteiisch sein dürfen.

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"Viele Ostdeutsche fühlten sich vom Westen von oben herab behandelt"

teleschau: Woher kommen die Unterschiede in der Wahrnehmung Russlands und Putins zwischen Ost- und Westdeutschland?

Wellmer: Ich bin für den Film viel in meiner ostdeutschen Heimat unterwegs gewesen. In der DDR wurde die Sowjetunion immer als der große Bruder gefeiert. Das ganze aufgesetzte Getue um die deutsch-sowjetische Freundschaft hat vielleicht oft genervt, aber die Sowjets verkörperten die gute Seite, und für manche vielleicht auch Sicherheit und Vertrauen. Ich persönlich glaube aber, dass das Verhältnis vieler Ostdeutscher zu Russland nach dem Mauerfall noch durch andere Einflüsse überlagert wurde. Manchmal habe ich den Eindruck: Je länger die DDR-Zeit und die enge Verbindung zur Sowjetunion zurückliegt, desto schöner und romantischer stellt sich das alles im Rückblick dar. Die Liebe zu Russland, die ich jetzt bei vielen spüre, ist vielleicht auch eine Möglichkeit, sich vom Westen abzugrenzen. Und einige denken und sagen auch: Der Westen tut den Russen Unrecht, so wie der Westen uns Ostdeutschen nach dem Mauerfall Unrecht getan hat.

teleschau: Wie kommt es, dass manche Ostdeutsche Verständnis für Putin und sein Handeln zeigen, während auf der anderen Seite Hunderttausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger 1989 für Freiheit und Frieden demonstrierten, die es in Russland momentan nicht zu geben scheint?

Wellmer: Ich kenne einige, die damals aktiv die DDR mit zum Einsturz gebracht haben, und von denen hatten viele auch damals schon kein positives Bild von der Sowjetunion. Es gibt nicht DIE Ostdeutschen. Der 9. November 1989 war für die einen das größte Glück der Welt, andere haben komplett ihre Orientierung verloren, und für viele ist es irgendwas dazwischen. Die Unsicherheit vieler nach dem Ende der DDR dürfen wir nicht unterschätzen. Viele haben ihre Arbeit verloren, waren auf einmal falsch angezogen oder hatten eine komische Art zu sprechen. Das, was früher als gut und richtig galt, war auf einmal nicht mehr angesagt. Das Gefühl der Unterlegenheit in dieser Zeit spielt auch heute eine große Rolle, denn viele Ostdeutsche fühlten sich vom Westen von oben herab behandelt, und vielen geht es jetzt wieder genauso, nach dem Motto: Damals haben die Wessis schon alles besser gewusst, und jetzt, wenn's um Russland geht, tun sie es wieder. Oder umgekehrt: Die Wessis reden schon wieder von etwas, wovon sie nichts verstehen.

teleschau: Setzt seit Ausbruch des Krieges ein Umdenken in der ostdeutschen Bevölkerung ein?

Wellmer: So groß die Erschütterung bei vielen darüber war, dass Putin doch tatsächlich seine Drohungen wahrmacht, so schnell setzten aber auch die Reparaturarbeiten an der eigenen Sicht auf die Dinge ein. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und der mediale Umgang damit verstärkt bei vielen im Osten das Gefühl, dass der Westen sie schon wieder unterbuttern will. Diesmal wollen sie aber nicht mehr mitmachen und still sein.

"Alte Ost-West-Rechnungen lösen die Probleme nicht"

teleschau: Was muss geschehen, damit die immer wieder thematisierten Gräben zwischen Ost- und Westdeutschland endlich überwunden werden?

Wellmer: Ich starte gerade so etwas wie meinen persönlichen Versuch, zu vermitteln zwischen zwei Seiten, die zusammengehören und doch so für sich stehen. Es geht dabei nicht eine Sekunde lang darum, die DDR zu verharmlosen oder den Angriffskrieg Russlands zu relativieren. Sondern es geht darum, zu sagen: "Ich bin anderer Meinung als Du, aber ich höre Dir jetzt mal zu." Das gilt für andere Konflikte und Debatten schließlich auch. Viele - auch im Westen - haben den Eindruck, dass sie nicht mehr gehört werden, und viele Ostdeutsche haben den Eindruck, dass ihnen seit 30 Jahren niemand zuhört. Mein Appell an meine Landsleute im Osten lautet: Die Debatten, die ihr führt, die habt ihr nicht exklusiv, sondern die führen auch Menschen im Westen. Wir haben gerade - überall in Deutschland - so viele Probleme. Alte Ost-West-Rechnungen lösen die nicht, sie machen sie nur größer.

teleschau: Haben Sie Sorgen, dass sich die Differenz durch den Ukraine-Krieg weiter verschärft?

Wellmer: Ja. Meine Sorge ist, dass sich Menschen, die sich eigentlich schon in der Mitte der Gesellschaft des wiedervereinigten Deutschlands fühlten, jetzt wieder aussteigen, sich zurückziehen in ihre alten Überzeugungen und politisch an die Ränder begeben.

teleschau: Welchen Beitrag kann eine intensivere wertfreie Berichterstattung über die Unterschiede in der Wahrnehmung Russlands, aber auch der Lebensbedingungen leisten, damit sich Ost- und Westdeutschland weiter angleichen?

Wellmer: Meine Devise für den Film war, zuzuhören, um den Leuten klarzumachen: Da ist jemand, der nicht gleich reingrätscht und draufhaut. Im besten Fall können sich so die Gesprächskanäle wieder öffnen. Wenn wir ohnehin schon seit Jahrzehnten das Gefühl haben, da stimmt doch was nicht in unserer Kommunikation in Ost und West, dann ist spätestens jetzt der Zeitpunkt, das zu ändern. Und ja, immer, wenn Menschen reden, gibt es das Risiko, dass sie sich nicht verstehen. Aber deswegen kann man ja nicht aufhören zu reden.

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