Neue Netflix-Doku

"Schumacher" und das Spiel mit der Sensationslust

09.09.2021 von SWYRL/John Fasnaugh

Netflix würdigt Michael Schumacher mit einer Dokumentation über seine Karriere, in der öffentlichen Rezeption geht es aber weiterhin nur um die Tragödie danach. Zeit, ein paar Steine durchs Glashaus zu schmeißen.

Die moderne Medienwelt, sie kann manchmal wirklich seltsam sein. Michael Schumacher ist siebenfacher Formel-1-Weltmeister, stellte zahllose Rekorde auf und wurde zum größten Star der Rennsport-Geschichte. Ein Held, eine Ikone. Aber wen interessiert das jenseits der Gruppe von Menschen, die damals live an der Strecke oder vor dem Fernseher mitfieberten? Heute, knapp 20 Jahre später? Ein paar PS-Nerds, eine Randgruppe, das war's. Was aber offensichtlich sehr "interessiert", ist sein tragisches Schicksal, das aktuell breitgetreten wird wie zu keinem anderen Zeitpunkt seit Schumachers schwerem Skiunfall im Dezember 2013. Netflix hat einen Film gedreht über den ehemaligen Formel-1-Superstar, und die Rezeption könnte perverser kaum sein.

Wenn man aktuell "Schumacher" googelt, findet man Dutzende Artikel über diesen Film. Veröffentlicht wird er erst am 15. September, der Presse aber wurde er schon vorab zugänglich gemacht. Kaum ein relevantes Medium lässt dieses Thema aus, und die Schlagrichtung ist fast überall dieselbe: Es geht immer wieder um die letzten drei, vier Minuten, auf halbem Wege befinden wir uns schon im Abspann, sowie um ein paar wenige Sätze im vorderen Teil der knapp zweistündigen Dokumentation. Es geht um die Momente, in denen Michael Schumachers Ehefrau Corinna Dinge sagt wie: "Es ist ganz klar, dass er mir jeden Tag fehlt." Oder: "Michael ist ja da. Anders, aber er ist da." Einige Artikel heben noch hervor, dass Corinna einen schwarzen Rollkragen-Pulli trägt und beim Sprechen Tränen in den Augen hat.

Die Willensstärke, die Michael noch heute zeige oder der Umstand, dass man ihn jetzt beschützen wolle, so wie er seine Liebsten früher beschützt habe: Jeder noch so kleine Satz, der vermeintlich etwas über Michael Schumachers gegenwärtigen Zustand verrät, wird herausgefiltert in der Berichterstattung über diesen Film. Darüber, worum es bei "Schumacher" wirklich geht, nämlich die differenzierte und bisweilen durchaus sehr kritische Betrachtung einer außergewöhnlichen Rennfahrerkarriere, erfährt man hingegen kaum etwas.

Dabei hätte dieser Film durchaus seine Würdigung verdient, weil er Schumachers Weg nach oben fesselnd nachzeichnet und auch die unbequemen Momente nicht ausspart, in denen "Schumi" zu weit ging für den Erfolg. 1997 etwa, als er Jacques Villeneuve im Meisterschaftsfinale von der Strecke zu rammen versuchte und - was es nie zuvor in der F1-Geschichte gegeben hatte - für die komplette Saison disqualifiziert wurde. Geschichten wie diese schaffen es nicht einmal als Fußnote in die bisweilen sehr ausführlichen "Schumacher"-Rezensionen.

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"Zu keinem Zeitpunkt der Schlagzeile nachgejagt"

Man sei "zu keinem Zeitpunkt der Schlagzeile nachgejagt", erklärt Regisseurin Vanessa Nöcker, die "Schumacher" gemeinsam mit Hanns-Bruno Kammertöns und Michael Wech inszenierte. Man habe im Lauf der Zeit sogar eine Art "Beschützerinstinkt" entwickelt. Wie und vor allem wie einseitig die Öffentlichkeit auf diesen Film reagieren würde, muss den Beteiligten aber eigentlich klar gewesen sein.

Seit Jahren stürzen sich nicht nur Boulevard-Medien geifernd auf jeden kleinen Fetzen, der einen Blick hinter den Vorhang verspricht oder sich zumindest als solcher verkaufen lässt. Jeder Halbsatz eine Schlagzeile, etwa wenn der ehemalige Ferrari-Teamchef Jean Todt wieder zu Besuch bei den Schumachers war und hinterher dazu befragt wird.

Die Tragödie um einen der größten deutschen Sportler aller Zeiten bringt Klicks, natürlich. Anhand dieser neuen Doku kann man die "Schumi-Story" ausschlachten wie lange nicht, und sie wird ausgeschlachtet, obwohl der Film streng genommen keinen großen Mehrwert bietet. Die Episoden mit Villeneuve sowie all die anderen Dramen und auch Triumphe Schumachers wurden an anderer Stelle zur Genüge aufgearbeitet, und über seinen aktuellen Gesundheitszustand weiß man am Ende der Doku auch nicht mehr als vorher. "Wieder reingefallen, wieder nichts Neues", wird mancher nach dem Netflix-Abend vielleicht denken. Vielleicht auch nach dem Lesen dieses Artikels.

Ein "Geschenk" an Michael Schumacher

Man kann kaum wegdiskutieren, dass Netflix bei diesem Filmprojekt mit der Sensationslust und dem Voyeurismus des Publikums spielt. Die Medien, die über "Schumacher" berichten, tun es auch, zu hundert Prozent. Steine im Glashaus, klar. Aber wenn sich irgendein Fallbeispiel dazu eignet, den eigenen Umgang mit Personen des öffentlichen Lebens zu hinterfragen, dann das von Michael Schumacher.

Wir lieben es, jemanden wie Michael Schumacher zu feiern und auf ein Podest zu stellen. Ihm zu huldigen wie einem Gott. Schumi! Schumi! Schumi! Es zeigt sich hier aber auch, dass wir die Götter vielleicht mit noch größerer Lust am Boden sehen. Nicht nur wir, die Medien, sondern wir, die Gesellschaft. Hätten Sie einen Artikel über noch eine Weltmeisterschaft für Michael Schumacher gelesen? Wie viele Artikel haben Sie angeklickt, in denen es um die Folgen seines Unfalls ging?

Überraschend ist letztlich aber nicht die Art, wie über das Sportler-Porträt "Schumacher" berichtet wird, sondern eher, dass der Film in dieser Form überhaupt entstanden ist. Nach Schumachers Unfall achteten seine Familie und die engsten Vertrauten mit allergrößter Konsequenz und Sorgfalt darauf, keine Details nach außen dringen zu lassen. Jetzt geht man, gefühlt ohne jede Not, in die Offensive, setzt sich vor die Netflix-Kamera und spricht. Corinna, die beiden Kinder Mick und Gina-Maria, Bruder Ralf und Vater Rolf. Sie alle wissen natürlich, wie sie reden müssen, ohne wirklich etwas Sensibles preiszugeben. Dennoch fragt man sich: Warum?

Die Netflix-Doku sei ein "Geschenk seiner Familie" an Michael Schumacher, erklärt Sabine Kehm, die jahrelange Managerin der F1-Ikone, die inzwischen auch Sohn Mick bei dessen Karrierestart unterstützt. Mag sein, denkt man achselzuckend, aber wirklich schlüssig ist die Erklärung nicht. Vielleicht geht es auch einfach nur darum, durch dieses Zugeständnis etwas mehr Ruhe zu bekommen - vor den Medien, vor all den Neugierigen, die gerne in Schlüssellöcher gucken, und vor den Fans des Rennfahrers Michael Schumacher, die meinen, auch einen Anspruch auf den Privatmenschen Michael Schumacher zu haben.

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