Kassandra Wedel ("In aller Freundschaft - Die jungen Ärzte") im Interview

"Manchmal fühlte es sich so an, als würde ich freiwillig ins Gefängnis gehen"

05.06.2022 von SWYRL/Elisa Eberle

Kassandra Wedel gewann 2020 den Opus Klassik Award für ein Tanzvideo zu Beethoven. Nun übernimmt die gehörlose Schauspielerin und Tänzerin eine dauerhafte Rolle in "In aller Freundschaft - Die jungen Ärzte". Ein Gespräch über die Liebe zur Kunst und die Frage, warum Integration von Gehörlosen in Amerika besser klappt.

Kassandra Wedel ist eine Frau mit Haltung: Sie weiß, wo sie im Leben steht und was sie noch erreichen will - für sich, aber auch für all die Menschen, die ein ähnliches Schicksal wie sie teilen. Kassandra Wedel ist Taub. Im Alter von vier Jahren verlor die heute 37-Jährige ihr Gehör infolge eines Autounfalls. Doch ihr Schicksal hielt sie nicht davon ab, ihren Weg zu gehen - im Gegenteil: Als Kind entdeckte sie ihre Leidenschaft fürs Tanzen, als Jugendliche gab sie Tanzunterricht für hörende und gehörlose Menschen. Inzwischen arbeitet die gebürtige Hessin als Schauspielerin und Tänzerin. Neben kleineren Rollen, wie etwa im "Tatort: Totenstille" (2016) oder in "Hubert ohne Staller" (2019) war sie 2016 in der Tanzshow "Deutschland tanzt" (ProSieben) zu sehen, wo sie für ihre Wahlheimat Bayern den ersten Platz belegte.

Nun übernimmt Wedel eine feste Rolle in der ARD-Vorabendserie "In aller Freundschaft - Die jungen Ärzte" (ab Donnerstag, 9. Juni, wöchentlich, 18.50 Uhr). Grund genug, über ihren außergewöhnlichen Werdegang und die gesellschaftliche Stellung der Gehörlosen in Deutschland zu sprechen. Das Interview fand per Videotelefonie zusammen mit einer Gebärdendolmetscherin statt: Elisabeth Brichta, die selbst als Tänzerin tätig ist, übersetzte die Fragen in Gebärden. Ihre Antworten formuliert Wedel, die zwar nicht hören, aber umso stärker für sich sprechen kann, selbst.

teleschau: In "In aller Freundschaft - Die jungen Ärzte" spielen Sie eine erfolgreiche Neurochirurgin. Hätten Sie sich diesen Beruf auch im echten Leben vorstellen können?

Kassandra Wedel: Nicht wirklich. (lacht) Ich bin nicht so der Krankenhausfan. Vor allem als Gehörlose habe ich in der Vergangenheit schon die ein oder andere schlechte Erfahrung gemacht.

teleschau: Wann hegten Sie erstmals den Wunsch, Schauspielerin zu werden?

Wedel: Das ist eine gute Frage. Ich wusste schon immer, dass ich Künstlerin werden will, erst Bildende, dann Tanzende und Spielende um am liebsten alles zusammen. So mit 19 war ich Cineastin, da kam der Wunsch auf. Wir besaßen keinen Fernseher, weil es da keine Untertitel gab, im Kino dagegen schon und die besseren Filme. Mein damaliger Freund arbeitete im Kino. Also gingen wir ständig. Zuvor hatte ich auch schon viele Jahre Theater gespielt in Kinder- und in Jugendgruppen. Neben der Schule gab ich Tanzunterricht, um mir mit dem verdienten Geld meine eigenen Tanzkurse weiterhin leisten zu können. Für viele andere war es nur ein Hobby, aber für mich war es schon immer mehr. Es war eine Leidenschaft und eine Form von Ausdruck, die ich von klein auf gerne mochte.

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teleschau: Wie reagierte Ihr Umfeld, als langsam klar wurde, dass Sie Tanz und Theater wirklich zum Beruf machen wollen?

Wedel: Meine Mom hat mich schon immer sehr gefördert. Deshalb habe ich schon von klein auf gemalt, getanzt, Theater, Klavier gespielt, bin Einrad gefahren ... Das alles durfte ich ausprobiere, um herauszufinden, was ich gerne mag. Beim außerfamiliären Umfeld war es schwieriger: In der Schule hatten wir einmal ein Berufstraining, bei dem wir eine Bewerbung schreiben sollten. Ich hatte mich fürs Schauspielen beworben. Damals wurde dann gesagt: "Die Bewerbung ist sehr kreativ und gut." Aber es sei unrealistisch. Ich solle mir das lieber noch mal überlegen.

teleschau: Wann hatten Sie erstmals das Gefühl, dass der Berufswunsch wahr werden könnte?

Wedel: Diesen einen speziellen Moment gab es nicht: Als ich mit 18 anfing, Tanzunterricht für Gehörlose anzubieten, war dies für mich ein selbstverständlicher Schritt, um meinem Traum näherzukommen. Durch mein Studium der Theaterwissenschaft kam dann mehr Theater hinzu.

"Auf einmal war viel mehr Mut da, einfach zu gebärden"

teleschau: 2020 gewannen Sie den Opus Klassik Award für ein Tanzvideo zu Beethovens fünfter Symphonie ...

Wedel: Der Preis war für mich eine große Überraschung: Ich wusste gar nicht, dass ich nominiert war. Es war schon noch mal ein anderes Gefühl, da das Stück klassisch, wütend und wild ist. (lacht) Leider konnte die Preisverleihung wegen Corona nicht im großen Rahmen stattfinden. Das fand ich etwas schade, weil die Tatsache, dass eine Gehörlose den Preis bekommt, schon etwas mehr Präsenz gebraucht hätte.

teleschau: Glauben Sie, dass Ihr Tanzvideo durch die Coronapandemie mehr Aufmerksamkeit als sonst bekam?

Wedel: Meine Präsenz ist durch Corona nicht gewachsen, denn ich war da nicht so aktiv, auch wenn der Druck da gewesen ist. Aber in der Gehörlosen-Gemeinschaft allgemein wurden in der Corona-Zeit deutlich mehr Videos gepostet. Auf einmal war viel mehr Mut da, einfach zu gebärden oder Reels und Storys auf Instagram zu posten, weil plötzlich der soziale Kontakt wegfiel, dadurch wurden Gehörlose vielleicht sichtbarer.

"Manchmal habe ich mich wirklich gefragt, wer eigentlich die Tauben sind"

teleschau: Vor allem zu Beginn der Corona-Pandemie las man immer wieder, dass Masken für Gehörlose zum Problem wurden, weil sie nicht mehr von den Lippen ablesen konnten. In welchen Situationen fühlen oder fühlten Sie sich von der Politik und der Gesellschaft vergessen?

Wedel: Am schwierigsten ist die Situation in der Schule: Schulunterricht für Gehörlose ist keine Bildung. Es gab und gibt oft noch keine Wissensvermittlung in Gebärdensprache. Es gibt Gehörlosenschulen, Inklusionsschulen, aber in keinen von diesen Schulen gab es wirklich barrierefreien Unterricht! Dadurch, dass die Lehrkräfte unsere Sprache nicht konnten, funktioniert die Wissensvermittlung nicht. Deswegen mussten wir drei Jahre länger in der Schule sitzen als Hörende. Nicht, weil wir langsamer sind oder dumm, sondern eigentlich andersherum, weil sie unsere Sprache nicht können.

teleschau: Das klingt anstrengend ...

Wedel: Manchmal fühlte es sich für mich so an, als würde ich freiwillig ins Gefängnis gehen und dort meine Zeit absitzen. Viele Gehörlose in meinem Umfeld haben die Schule abgebrochen und kein Abitur gemacht, weil sie es psychisch nicht mehr ausgehalten haben. Es war einfach schwierig, nicht gehört und ständig bevormundet zu werden. Ich habe mich oft im Stich gelassen gefühlt, war wütend und bin dann einfach tanzen gegangen. Was blieb mir auch übrig. Oder ich habe im Unterricht, wo man mich zum großen Teil nicht verstand, einfach abgeschaltet, vor mich hingeträumt vom Tanzen und der Kunst.

teleschau: Wie könnte man die Situation gehörloser Schülerinnen und Schüler künftig verbessern?

Wedel: Zum einen sollte man uns die Möglichkeit geben, gehört zu werden! Manchmal habe ich mich wirklich gefragt, wer eigentlich die Tauben sind. (lacht) Außerdem wünsche ich mir, dass künftig viel mehr Menschen die Gebärdensprache lernen. Das ist wichtig, damit die Kommunikation und die Wissensvermittlung funktioniert. Im Alter von 14 Jahren, das war im Jahr 1999, war ich in Amerika auf einer Schule zu Besuch. Dort konnte man als zweite Fremdsprache, neben Spanisch die American Sign Language erlernen. Für mich war das toll. Ich konnte in der Pause um mich herum nicht auseinanderhalten, wer hörend oder taub ist, es war in dem Moment auch gar nicht wichtig!

teleschau: Das heißt, Sie plädieren dafür, Gebärdensprache auch hierzulande in den Fremdsprachenunterricht zu integrieren?

Wedel: Ja absolut, es wäre sinnvoll, wenn die Menschen in Deutschland auch Gebärdensprache lernen könnten, es schadet nicht. Im Gegenteil: Man kann damit durch die Welt reisen und besser kommunizieren. Gehörlose sind Meister der Kommunikation. Sie suchen immer einen Weg zu kommunizieren, egal ob mit Papier und Stift, mit Gesten oder mit Gebärden.

"Gehörlosigkeit ist sehr individuell"

teleschau: In der Serie reagieren Ihre fiktiven Kolleginnen und Kollegen zunächst verunsichert auf Ihr fehlendes Gehör. Welche Tipps geben Sie hörenden Menschen im Umgang mit Gehörlosen?

Wedel: Gebärdensprache lernen! Und wirklich auch fragen, was die Person braucht. Gehörlosigkeit ist sehr individuell: Es sind nicht alle Tauben gleich. Manche verwenden nur Gebärdensprache, andere nicht - das ist unterschiedlich.

teleschau: Bei "In aller Freundschaft - Die jungen Ärzte" weiß ausgerechnet der arrogante Dr. Moreau sofort, wie er mit Ihrer Figur kommunizieren muss. Konnte der Schauspieler Mike Adler bereits zuvor Gebärdensprache, oder musste er sie erst erlernen?

Wedel: Wir haben ihm die Sätze beigebracht. Er musste es einen Tag vorher lernen. Alle waren erstaunt, warum ausgerechnet meine Rolle mit Dr. Moreau befreundet ist. Aber er weiß einfach meine Kompetenz zu schätzen, unabhängig von meiner Taubheit. Ich denke, Dr. Moreau hat Respekt vor Dr. Lipp, und er weiß als Schwarzer auch, wie es sich anfühlt, wenn andere Menschen auf einen herabschauen. Menschen wie er haben Erfahrung mit Rassismus. Gehörlose hingegen machen Erfahrung mit Audismus, das bedeutet, wenn hörende Menschen auf Gehörlose herabschauen und ihre Leistung abwerten: Es heißt dann, taube Menschen können dies nicht, sie können das nicht, sie können nicht schauspielern und so weiter. Aber das stimmt nicht! Wir können nur nicht hören, aber alles andere können wir schon.

teleschau: Heißt das, Sie bringen Ihren Schauspielkolleginnen und -kollegen nun Stück für Stück die Gebärdensprache bei?

Wedel: Ja, aber mit ein paar Sätzen für den Film kann man keine komplexe Sprache. Dazu müssten sie zu einem Tauben Coach oder Gebärdensprachdozenten gehen oder einen bekommen. Am ersten Drehtag gab es einen Kollegen, der superneugierig war. Er hat viele Gebärden gelernt und wollte die dann auch vor der Kamera verwenden. Der Regisseur musste ihn dann immer etwas bremsen und sagen: "Deine Rolle kann noch nicht so gut gebärden. Du musst dich etwas zurücknehmen." (lacht)

"Ertaubung durch Unfälle oder Kriege sind weniger verbreitet"

teleschau: Wie Sie selbst verlor auch Ihre Figur Dr. Alica Lipp ihr Gehör als Kind nach einem Autounfall. Durften Sie diese Parallele selbst einbringen?

Wedel: Das war die Idee der Autoren. Sie überlegten: "Hm, warum ist Dr. Lipp gehörlos?" Dann haben sie mich gefragt, ob ich einverstanden mit der Parallele bin. Ich wurde im Alter von drei Jahren gehörlos, Dr. Lipp im Alter von vier. Für mich war das in Ordnung, weil ich denke, dass Hirnhautentzündung und andere Krankheiten weit verbreitete Ursachen für eine Ertaubung sind, Ertaubung durch Unfälle oder Kriege sind weniger verbreitet.

teleschau: Durften Sie darüber hinaus noch weitere Dinge aus Ihrer Biografie in die Rolle einbringen?

Wedel: Zu viel von meiner Biografie möchte ich nicht wirklich, sondern eine Rolle, die anders ist. Ich glaube, dass sich die Rolle vor allem mein Lächeln leiht. Vielleicht hat sie auch meine Ausdauer. Sie versucht, ihren Weg zu gehen. Aber ansonsten stehe ich an einem anderen Punkt in meinem Leben: Bei meiner Arbeit am Theater oder bei Dreharbeiten habe ich immer Gebärdensprachendolmetscher dabei. Dr. Lipp hat diesen Vorteil nicht.

"Es braucht nicht nur mehr Taube vor, sondern auch hinter der Kamera"

teleschau: Könnte sich durch Ihre fortlaufende Rolle bei "In aller Freundschaft - Die jungen Ärzte" etwas an der allgemeinen Wahrnehmung gehörloser Menschen ändern?

Wedel: Ich hoffe es! Die Rolle bringt auf jeden Fall viel Aufklärung und Sensibilisierung mit. Aber ich denke, dass trotzdem noch viel mehr geht, dass man im Film noch ganz andere Geschichten erzählen kann.

teleschau: Was schlagen Sie vor?

Wedel: Es braucht mehr Taube oder Menschen mit Behinderung nicht nur vor, sondern auch hinter der Kamera. Denn hörende Autoren haben oftmals keine Vorstellung davon, wie das Leben eines Gehörlosen aussieht. Als Gehörlose habe ich mein ganzes Leben lang mit hörenden Menschen zu tun, aber umgekehrt arbeiten viele zum ersten Mal mit einer Tauben zusammen. Insofern bin nicht ich diejenige, die verbessert werden muss, sondern die Hörenden müssen von uns lernen. Deshalb ist es wichtig, dass Gehörlose bereits an der Entwicklung von Geschichten beteiligt werden.

teleschau: Stimmt es, dass es überhaupt keine künstlerische Ausbildung für Gehörlose gibt?

Wedel: Mittlerweile gibt es Ausbildung, zum Beispiel in der Schweiz, in Toulouse. Aber es sind wenige. Es gibt ein paar Taube Schauspieler, die eine Schauspiel- oder andere Künstlerische Ausbildung haben. Aber früher zu meiner Zeit war es schwierig, weil die Schulen hauptsächlich auf Sprechtheater ausgerichtet waren. Unsere Sprache funktioniert visuell. Das heißt, wir mussten unsere Sprache selbst erforschen: Wie gehen wir damit auf der Bühne um? Wie erzählen wir etwas poetisch? Wie können wir Texte umsetzen?

teleschau: War dies der Grund, weshalb Sie sich für ein Studium der Theaterwissenschaft entschieden haben?

Wedel: Ja, genau. Das war eine Abzweigung, weil es kaum andere Möglichkeiten gab. Ich habe überlegt, mich für Schauspielschulen zu bewerben, aber als ich mit der Schule fertig war, war ich schon viel älter. Außerdem sah ich die Chance bei Theaterwissenschaft, dass ich später dann immer noch Regie machen könnte.

"Theater ist für mich ein Raum zum Experimentieren"

teleschau: Als Tänzerin gewannen Sie bereits einige Preise, als Schauspielerin spielten Sie im Theater und im Fernsehen. Welche Wünsche und Pläne haben Sie für die Zukunft?

Wedel: Ich wünsche mir einen richtig guten Spielfilm, vielleicht einen Arthouse-Film mit einer Charakterrolle. Eine Rolle, bei der die Gehörlosigkeit ein Merkmal wie Sommersprossen ist.

teleschau: Heißt das, Sie wollen sich künftig mehr auf Schauspiel als auf Tanz konzentrieren?

Wedel: Nein, ich will beides machen und finde es nervig, dass man sich gefühlt immer nur für eines entscheiden muss. Als schließe das eine das andere aus, dabei bereichert es einander. Theater ist für mich ein Raum zum Experimentieren. Dort kann man sehr kreativ mit der Gebärdensprache arbeiten und sie mit Tanz mischen. Deshalb will ich auch auf jeden Fall noch mein eigenes Tanztheater machen mit Gebärdensprache, mit Gehörlosen und Hörenden Tänzern zusammen. Ich habe einige Ideen in der Schublade, die nur darauf warten, umgesetzt zu werden.

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