"Ukraine - Kriegstagebuch einer Ärztin"

"Ich fühle keine Freude mehr": Über den Alltag einer Ärztin in der Ukraine

31.01.2023 von SWYRL/Aylin Rauh

Regisseur Carl Gierstorfer begleitete für den Dokumentarfilm "Ukraine - Kriegstagebuch einer Ärztin" die Anästhesistin Wira Primakova. Wie sieht der Alltag von einer Frau aus, die im Krieg Menschen rettet und dabei ihr eigenes Leben riskiert?

Die ersten Sekunden des Dokumentarfilms "Ukraine - Kriegstagebuch einer Ärztin" (Dienstag, 7. Februar, 22.50 Uhr, ARTE) stehen für sich: Aufnahmen über den Dächern der westukrainischen Stadt Lwiw, im Hintergrund sind laute Sirenen zu hören. Für die meisten Ukrainer gehört dies zum Alltag. "Immerhin scheint die Sonne", versucht Anästhesistin Wira Primakova ihre Angestellten aufzumuntern. Sie leitet die Intensivstation des Okhmatdyt-Kinderkrankenhauses, getrennt von ihrem Mann und ihren drei Söhnen. Regisseur Carl Gierstdorfer begleitete über knapp ein Jahr die Ärztin während ihres Alltags - dabei entstand ein 60-minütiges Videotagebuch, das nicht nur Eindrücke aus Primakovas Arbeitsalltag zeigt, sondern auch authentische Einblicke in ihre Gefühlswelt gibt.

Obwohl die Sehnsucht nach ihrer Familie täglich gößer wird, weiß Wira Primakova: Sie hat eine Aufgabe, und die Menschen brauchen sie. "Der Krieg hat mein Leben viel komplizierter gemacht", erklärt die Ärztin. "Wenn ich arbeite, ist es anders. Ich habe mit so vielen Menschen zu tun, ich vertiefe mich so in die Arbeit, dass ich vergesse, was eigentlich gerade geschieht." Während der Leitung der Intensivstation sei sie noch zuständig für die künstliche Beatmung. Zu ihren jüngsten Patientinnen gehören die Zwillinge Diana und Sophia. Sie kamen als Frühchen zur Welt und kämpfen aufgrund einer Lungenentzündung ums Überleben. Der Aufenthalt in stickigen Luftschutzkellern hat ihre Lungenflügel beschädigt. "Mein Gott das ist furchtbar", sagt Primakova einmal im Film, als sie die Röntgenbilder sieht.

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"Das tut mir in der Seele weh"

Während die Anästhesistin versucht, die Familienmitglieder von anderen Menschen zu retten, steigt die Sehnsucht nach ihrer eigenen Familie. "Meine Kinder sind momentan weit weg von mir", erklärt sie in einer Szene, die Anfang März 2022 aufgenommen wurde. Dazu zeigt sie Bilder von ihren drei Söhnen. Sie seien "220 Kilometer, entfernt in einem Dorf bei meiner Tante", sagt sie. "Wir haben sie am 25. Februar aus Lwiw zu ihr gebracht, damit sie sicher sind. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen." Das erste Telefonat mit ihren Kindern sei "vor vier Tagen" gewesen. "Davor haben sie nicht aufgehört zu weinen. Sie wollten, dass ich sie wieder mit nach Hause bringe und sie nicht verlasse."

"Das tut mir in der Seele weh. Und das im 21. Jahrhundert", sagt Primakovas Mutter Olha und kämpft mit den Tränen. "Mama weint die ganze Zeit, weil es so schwer ist für sie", erklärt die Ärztin. Ihr Mann kämpft an der Front in der Nähe von Mariupol. "Vielleicht kommt er nicht zurück", weiß sie. Sie wünsche sich Frieden für die Ukraine und eine glückliche Zukunft als Familie. Für die Ärztin sei es schwer die Nachrichten zu verfolgen. "Wenn ich weg bin von den Menschen, wenn meine Mutter und meine Verwandten mich nicht sehen können, dann erlaube ich mir Gefühle. Dann, wenn es niemand sehen kann."

Nach einem Monat holt sie ihre Söhne wieder zu sich. "Ich konnte ohne sie nicht länger leben", erklärt sie, "es hat mich verrückt gemacht, ich konnte nicht mehr. Irgendwie habe ich mich dafür gehasst, dass ich meine Kinder einen Monat weggegeben habe."

"Er ist einfach ein Kind"

"Es war nicht nur Schmerz, den ich empfunden habe", beschreibt die dreifache Mutter ihre Gefühlslage, als sie den 14-jährigen Wanja zum Rettungswagen begleitet, "es war auch Wut." Sie habe sich gefragt: "Warum? Wofür? Warum muss dieses Kind solche Qualen ertragen? Er hat niemandem etwas getan. Was ist die Schuld dieses Kindes? Er ist einfach ein Kind."

Die nächsten Wochen im Krieg verlaufen für Wira Primakova immer gleich: Verletzte Kinder werden in die Klinik aufgenommen und versorgt. Sobald die kleinen Patienten stabil genug sind, werden sie für weitere Behandlungen in andere Länder geschickt. In der Hoffnung, dass der Krieg bald ein Ende findet, kämpft Primakova weiter - doch als der Winter naht und die Stromversorgung wegen Raketenangriffen unterbrochen wird, gerät die Ärztin körperlich und psychisch an ihre Grenzen. "Seit dem 24. Februar ist alles anders", gesteht sie am Ende des Dokumentarfilms. "Das Gefühl von Glück und Lebensfreude ist komplett verschwunden. Nach außen lächle ich, bin fröhlich. Aber ich fühle keine Freude mehr."

Carl Gierstorfer ist es gelungen, Eindrücke einzufangen, die nachhaltig wirken: Der Film zeigt nicht nur das Leben einer Ärztin in Zeiten des Krieges, sondern auch das Leben einer Mutter, Tochter und Ehefrau. Trotz ihrer Angst versucht Wira Primakova, ihre Patienten und die eigene Familie vor dem Krieg zu beschützen - selbst wenn das bedeutet, sich selbst zu verlieren. Eine Einstellung, die wohl viele ukrainischen Frauen in dieser Zeit gemeinsam haben. Und am Ende dieses beeindruckenden Films stellt man sich als Zuschauer selbst die Frage: Wie lange müssen diese Menschen noch leiden?

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