ARD-Doku "Die Story im Ersten: Weihnachtsmarkt.Anschlag"

Fünf Jahre nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt: Wer waren die Hintermänner?

13.12.2021 von SWYRL/Maximilian Haase

Vor fünf Jahren starben beim Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin zwölf Menschen. Eine "Story im Ersten" rekapituliert, wie es zum schlimmsten islamistischen Angriff in Deutschland kommen konnte. Die Autoren befragten Vertraute des Attentäters Anis Amri und folgten Spuren zu den Hintermännern.

Zwölf Tote, mehr als 100 Verletzte - und ein nationaler Schock, der noch immer tief sitzt. Fünf Jahre ist es her, dass der Attentäter Anis Amri in Berlin den bis heute schlimmsten islamistischen Anschlag in Deutschland verübte. Mit einem gestohlenen Lastwagen raste der Tunesier am 19. Dezember 2016 auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz, mitten im Herzen der Hauptstadt. 50 Behörden waren in die Untersuchung des Terrorakts involviert, drei Untersuchungsausschüsse nötig. Die Bundeskanzlerin versprach den Opfern und Angehörigen eine "lückenlose Aufklärung".

Wirklich aufgeklärt wurde indes nur wenig, und wenn, dann zögerlich und lückenhaft, wie der Film "Die Story im Ersten: Weihnachtsmarkt.Anschlag" (Montag, 13. Dezember, 22.50 Uhr, ARD) aufzeigt. Die Dokumentation begleitet den Kampf der Hinterbliebenen um Anerkennung. Nicht nur das: Den Filmemachern gelang auch ein Einblick in Anis Amris Umfeld - und eine eindrückliche Recherche, die zu den IS-Hintermännern des Anschlags führte.

Sascha Adamek, Jo Goll und Norbert Siegmund dokumentieren in ihrem Film die Pannen beim Versuch, den Anschlag aufzuklären. Sie wohnten den Untersuchungsausschüssen in Düsseldorf und im Bundestag bei, forschten bei Behörden nach - und wurden dabei nicht selten, insbesondere bei den Bundessicherheitsbehörden, zurückgewiesen. Bisweilen stießen die Journalisten aber auch auf (ehemalige) Verantwortliche, die sich erstaunlich kritisch und offen vor der Kamera äußerten. Dies sei "ein schwieriger Prozess" gewesen, sagt RBB-Journalist und Co-Autor Jo Goll, denn "es sind Leute, denen wir mit unseren Recherchen über die Jahre auch wehgetan haben".

Sei man anfangs noch auf Abwehrhaltung gestoßen, hätten sich einige Ermittler mit fünf Jahren Abstand überraschend selbstkritisch gegeben. Für manche sei der Anschlag der einschneidendste Moment in ihrer Laufbahn gewesen, berichtet Goll. Warum die Ermittlungen und die juristische Aufarbeitung so zäh vonstattengingen, versuchen die Autoren unter anderem in Gesprächen mit den 2016 zuständigen Polizeibeamten und dem dahin verantwortlichen BND-Präsidenten zu klären.

Abonniere unseren Newsletter und wir versprechen, deine Mailadresse nur dafür zu verwenden.

Abonniere doch jetzt unseren Newsletter
Mit Anklicken des Anmeldebuttons willige ich ein, dass mir die teleschau GmbH den von mir ausgewählten Newsletter per E-Mail zusenden darf. Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und kann den Newsletter jederzeit kostenlos abbestellen.

"Der hat sich nicht selber unter Kontrolle gehabt"

Zu Wort kommen aber insbesondere die Überlebenden des Anschlags und die Angehörigen der Opfer. "Sie haben unfassbares Leid erlebt", sagt der Journalist Jo Goll. Es ist ein doppeltes Trauma, wie der Film aufzeigt - durch die Tat und schließlich durch die Hürden. die ihnen die Behörden in den Weg legten. Manche schmerzhaften Auseinandersetzungen mit Ämtern um Versorgungsansprüche, Traumatherapie und Ausgleichszahlungen halten bis heute an. Es sei eine "permanente Retraumatisierung der Opfer", sagt ein Ersthelfer im Film, der sich selbst in Therapie befindet. Noch heute wache er nachts oft schreiend auf. Es sind zum Teil bewegende Bilder, die "Die Story im Ersten" zeigt.

"Wir haben einen Staat, der Fehler gemacht hat - und dann knausrig ist, wenn es um die Opfer und Hinterbliebenen geht", fasst Goll zusammen. Bisweilen sei es beschämend, wie Betroffene etwa regelmäßig nachweisen müssten, noch immer durch die Folgen des Anschlags belastet zu sein. Frust, Ängste und Depressionen seien die Folge. "Das ging uns auch selbst sehr unter die Haut", gesteht der Journalist.

Fünf Jahre lang haben die Autoren die Betroffenen sehr intensiv begleitet. Es sei ein "ambivalentes Verhältnis" gewesen, so Goll: "Wir waren immer die Überbringer der schlechten Nachrichten." Und doch hätten die Angehörigen sich immer wieder gemeldet und das Team gebeten, weiterzumachen, an der Aufklärung mitzuwirken. Selbst bis heute, so beweisen die detaillierten Recherchen, ist nicht alles geklärt; und bis heute scheint die Terrorbekämpfung in Deutschland Lücken aufzuweisen. "Das war ein Versagen des Staates", klagt ein Hinterbliebener im Film, "und dem Staat ist das egal". Es sei "gar nichts aufgeklärt worden", so eine andere Betroffene - im Gegenteil werde immer wieder Neues gefunden.

Die "Story im Ersten" geht noch einen Schritt weiter: Exklusive, bislang unveröffentlichte Aufnahmen - etwa von Amris Handy - sollen einen Blick in das Umfeld des Attentäters liefern, der von den Behörden ursprünglich fälschlicherweise als Einzeltäter benannt wurde. Man habe das Terrornetzwerk um Amri gut ausleuchten können, sagt Goll, die Spur führe bis ins tunesische Heimatdorf des Attentäters. Die dortige Moschee wird im Film als "Durchlauferhitzer für IS-Terroristen" bezeichnet. Brisant sind vor allem die in der Doku dokumentierten Audioaufnahmen, in denen Amri in Kontakt mit Islamisten tritt, nach Vermittlung eines Mentors fragt und nach jemandem, der den Anschlag freigeben würde. Die deutschen Behörden hätten diese Aufnahmen gekannt - sie aber nicht zuordnen können.

Auch der "inner circle" um Anis Amri, so zeigen die Recherchen dieser sehenswerten "Story im Ersten", besteht aus jungen Männern mit islamistischer Gesinnung, deren Ziel es ist, sich physisch und psychisch auf den Kampf gegen den Westen vorzubereiten. Videos von Amris Handy zeigen junge Männer beim Training und beim Gebet, "Allahu Akbar" rufend. Die Reporter des vom RBB produzierten Films schafften es auch, mit ehemaligen Vertrauten Amris aus der islamistischen Szene zu sprechen - etwa mit einem verurteilten Islamisten, der in einem Bochumer Gefängnis sitzt. Er bezeichnet Amri als "aufbrausend": "Der hat sich nicht selber unter Kontrolle gehabt." Schulabbruch, Flucht, Brandstiftung in einem Flüchtlingslager, Haft, Radikalisierung: Der Film zeichnet nach, wie Anis Amri zum islamistischen Terroristen wurde - und wie er Kontakt zum IS-Netzwerk suchte und fand.

"Anis Amri war alles, aber kein Einzeltäter"

Womöglich schafft es der Film sogar, die Ermittlungen weiterzutreiben. Erstmals wird die Geschichte jener erforscht, die als Drahtzieher im Hintergrund agierten. Die Autoren reisten dafür in den Nordirak, liefern Berichte aus erster Hand: "Wir haben einen mutmaßlichen Auftraggeber des Anschlags identifizieren können", so Jo Goll. Es handelt sich um einen hochrangigen IS-Funktionär, zuständig für die Terrorplanung im Ausland - auch ein Foto von ihm konnten die Autoren auftreiben. Auf ihn seien Bundesbehörden schon kurz nach dem Anschlag von einem BND-Agenten aufmerksam gemacht worden - eine Spur, von offizieller Seite nicht weiter verfolgt, der das Autorenteam aber nachging.

Das Ergebnis: Es gibt den Mann wirklich, irakische Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass er lebt - womöglich außerhalb des Iraks und als potenzielle Gefahr für Deutschland. Die Recherchen, sagt Goll, haben dazu geführt, dass der FDP-Innenexperte Benjamin Strasser die Bundesanwaltschaft zu Nachermittlungen auffordert. Politiker Strasser kommt auch im Film zu Wort und verleiht seiner Forderung Nachdruck: "Anis Amri war alles, aber kein Einzeltäter!" Auch seine Kollegin, Innenexpertin Irene Mihalic von den Grünen sagt, es sei ein "schwerwiegendes Versäumnis", dass nicht geschaut wurde, ob noch andere Täter beteiligt waren.

Am Ende, so könnte man es zugespitzt ausdrücken, gelang dem Autorenteam, woran Staat und Behörden lange scheiterten: Die Opfer ernstzunehmen und zu begleiten, Lücken in der Ermittlungsarbeit zu erkennen, Hintergrundmänner und Netzwerke des Attentäters zu identifizieren. "Die Story im Ersten" liefert ein erstklassiges Beispiel dafür, wie gut recherchierter und relevanter Journalismus im Fernsehen aussehen kann. Und auch, dass dies mit Empathie möglich ist. Sie habe sich mit anderen Betroffenen zusammengeschlossen, um "innere Ruhe zu finden", sagt an einer bewegenden Stelle der Doku eine Frau, die bei dem Anschlag ihren Vater verloren hat - und fügt an: "Wenn das überhaupt möglich sein kann".

Neben der Dokumentation, die das Erste am späten Abend zeigt, steht ab Montag, 13. Dezember, ab 18 Uhr, auch eine ausführlichere Fassung in drei Teilen in der ARD-Mediathek zur Verfügung.

Das könnte dir auch gefallen


Trending auf SWYRL