Harald Lesch im Interview

"Es wird zu viel gemeckert und zu wenig auch mal ausgehalten"

30.04.2021 von SWYRL/Maximilian Haase

Unermüdlich aufklären: Die Folgen der Corona-Pandemie forderten Harald Lesch in den letzten Monaten einiges ab. Was im Umgang mit dem Virus versäumt wurde und wie man das Vertrauen in die Wissenschaft stärken kann, erklärt der Professor im Interview.

Harald Lesch ist so etwas wie der Inbegriff des modernen Aufklärers. Eindrücklich zeigten das die vergangenen Monate: Unermüdlich hält der Münchner Professor seit Ausbruch der Corona-Pandemie den Stab der Wissenschaft hoch - mit Argumenten und Fakten gegen Virusleugner und Verschwörungsideologen aller Couleur. Wie schon beim Thema Klimawandel, vor dem der Astrophysiker seit Jahren warnt, ließen die Attacken im Netz nicht lange auf sich warten. Unterkriegen lässt sich Lesch davon nicht: Der Wissenschaftsskepsis setzt er die Skepsis der Wissenschaft entgegen. Leidenschaftlich, informativ und unterhaltsam thematisiert der Naturphilosoph dabei seit Jahren, wie sich Forschung, Technik, Wirtschaft und Politik gegenseitig bedingen und beeinflussen. Auch abseits der Pandemie ist für den 60-Jährigen alles mit allem verknüpft - von Digitalisierung, Energie und Mobilität bis hin zur Frage, was die Welt eigentlich zusammenhält: In einer Doppelfolge "Terra X" (Sonntag, 2. Mai, 19.30 Uhr, sowie Sonntag, 9. Mai, 19.30 Uhr, im ZDF) klärt Lesch unter dem Titel "Supercodes - Die geheimen Formeln der Natur" nun über die Grundlagen der Wissenschaft auf.

teleschau: Herr Professor Lesch, eine kurze Frage zu Beginn: Gibt es die Weltformel?

Harald Lesch: Ich stelle mir immer vor, jemand findet die Weltformel am Freitagnachmittag, will aber noch warten, bis er sie am Montag veröffentlichen kann. Dann kommt derjenige nach Hause und der Partner ruft: "Hast du Bier mitgebracht? Der Hund hat schon wieder Durchfall". Also, Weltformel: lächerlich.

teleschau: Dann vielleicht persönlicher: Gibt es eine Formel, die in Ihnen besonders viel Freunde und positive Emotionen auslöst?

Lesch: Diese Formel kennt nur meine Frau, die verrate ich nicht (lacht).

teleschau: Ihre neue "Terra X"-Doppelfolge widmet sich den Formeln, Gesetzen und "geheimen Codes", die die Welt zusammenhalten. Ein umfassendes Thema für ein TV-Format, oder?

Lesch: Alles hängt mit allem zusammen - das ist erst einmal ein blöder Satz. Aber er stimmt. Und dann kann man das wieder auseinandernehmen, rekonstruieren und neue Fragen stellen: Was kann ich überhaupt an der Welt verstehen? Wo muss ich anerkennen, dass ich es nicht verstehen kann? Was kann ich berechnen - und was nicht? Darum geht es.

teleschau: In der Sendung geht es auch um die Grundlagen der Wissenschaft. Während der Corona-Pandemie wurden wissenschaftliche Erkenntnisse von einem Teil der Gesellschaft angezweifelt. Warum ist das so?

Lesch: Erst einmal: Der größte Teil der Bevölkerung steht zu dem, was die Wissenschaft sagt. Ein Großteil steht auch hinter den Corona-Maßnahmen. Es ist eher eine Art Lautsprecher: Diejenigen, die nicht einverstanden sind, schreien am lautesten.

teleschau: Und die anderen?

Lesch: Die schweigende Mehrheit hört man halt nicht. Ich kann nur daran appellieren, mit denjenigen, die wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen, im Gespräch zu bleiben. Immer und immer wieder wohlwollende Diskussionen führen: Du benutzt doch auch einen Computer, du bist doch auch froh über die Wirkung der Impfstoffe - und so weiter. Diese Kleinigkeiten im Alltag: Es gibt niemanden in Deutschland, der komplett natürlich oder unkulturell lebt. Das ist das Ergebnis von 500 Jahren Geistesgeschichte, von Philosophie, Psychologie und evidenzbasierter Wissenschaft. Sich da gegen die Wissenschaft zu stellen - da kann ich auch die Sonne anbrüllen (lacht). Ich denke: Selbst ein kranker Querdenker ist immer noch froh, wenn er beatmet wird.

teleschau: Wie kommt es eigentlich, dass ein offensichtlich vorhandenes Virus so eine gesellschaftliche Spaltung herbeiführt?

Lesch: Das Virus ist eine molekulare Maschine, der ist es völlig egal, wen sie befällt. Das ist uns völlig abhandengekommen: Etwas anzuerkennen, womit wir nicht verhandeln können. Für den Klimawandel gilt das übrigens genauso - wir glauben immer noch, dass es schon nicht so schlimm werden wird. Dabei laufen die Dinge genau so, wie die pessimistischsten Modelle es vorhersagen.

teleschau: Und doch wird hierzulande schon gegen recht schwache Maßnahmen heftig protestiert.

Lesch: Wir hatten lange nicht die scharfen Lockdowns wie in anderen Ländern - und trotzdem gibt es bei uns die Querdenkerdemonstrationen und das große Gemeckere. Es wird zu viel gemeckert und zu wenig auch mal ausgehalten. Kein Mensch hat dieses Virus hier gewollt. Und wir müssen uns irgendwie der Tatsache stellen, dass es sich dabei um eine Art Naturkatastrophe handelt, wie sie uns in dem Ausmaß noch nie begegnet ist. Es ist erstaunlich, dass wir glauben, so einer außergewöhnlichen Situation mit den Rezepten der Normalität begegnen zu können.

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"Das hätten wir besser machen können"

teleschau: Im vergangenen Jahr lobten Sie den Umgang der Regierung mit der Pandemie noch. Wie bewerten Sie die Coronapolitik nun, ein Jahr später?

Lesch: Nun ja. Sie ist ständig schlechter geworden. Beim Fußball hätte man gesagt: Sie haben drei Tore geschossen, dann haben sie sich in die Verteidigung zurückgezogen und gewartet, bis das Spiel zu Ende ist. Das hätten wir besser machen können. Was ich wirklich komisch finde, ist die Abkehr auch einiger Politiker von der Wissenschaft.

teleschau: Inwiefern?

Lesch: Lassen Sie es mich so sagen: Da gibt es Leute, die sagen Ihnen fünfmal hintereinander die Lottozahlen richtig voraus. Und Sie antworten: Das mag ja sein, aber was die vorhersagen ist mir völlig egal, beim nächsten Mal tippe ich, wie ich will. Einige Leute denken, sie seien schlauer als diejenigen, die wirklich was von dieser Krankheit verstehen. Und laufen lieber ihren eigenen Zielen und Zwecken hinterher. Darüber hat sich die Kanzlerin ja auch beschwert - als ausgewiesene Naturwissenschaftlerin wusste Angela Merkel, wie leistungsfähig die Wissenschaft ist. Hätten wir uns da an diese ganz elementaren Regeln gehalten, wären wir mit wesentlich geringeren Infektionszahlen in die dritte Welle gegangen. Man wusste, dass die Mutationen kommen werden - und dass diese sich dann durchsetzen, das ist ganz banale Mathematik. Diese einfachen Zusammenhänge sind anscheinend nicht bis zur Politik durchgedrungen.

teleschau: Oft lautete in den letzten Monaten der Einwand, es sei nicht alles nur mit den Augen der Wissenschaft zu betrachten. Was sagen Sie als Wissenschaftler dazu?

Lesch: Es ist eben doch sehr vieles Wissenschaft. Bei der Behandlung des Virus geht es zuerst um Wissenschaft. Erst dann kann man irgendwelche Träume, Ziele, Visionen und sonst irgendetwas hineinbauen. Natürlich muss die Politik noch andere Bereiche berücksichtigen, und viele leiden unter dem Lockdown, vollkommen klar. Momentan müssen aber einige Kreise der Gesellschaft lernen, dass die Aussage, es sei nicht nur Wissenschaft, doch häufig an der Realität vorbeigeht.

teleschau: Was wurde von wem versäumt?

Lesch: Die Wissenschaft liegt mit den Prognosen meist genau richtig. Es kommt darauf an, im richtigen Moment auf die Wissenschaft zu hören. Die richtigen Maßnahmen zur richtigen Zeit. Da muss ich gerade mit Blick auf die Ministerpräsidenten fragen: Warum hört ihr nicht auf eure Spezialisten? Dafür bezahlt uns die Gesellschaft doch. Wir kommen aus dem Reich der Tatsachen und sagen, was der Fall ist - und dann kommt jemand und sagt: Nein, das ist nicht der Fall. Da kann man sich nur noch heulend zurückziehen (lacht).

"Es war eher schwierig, das Corona-Thema rauszuhalten"

teleschau: Manche behaupten, die Verbindung der Menschen zur Wissenschaft sei verlorengegangen.

Lesch: Eine der schönsten Erkenntnisse der letzten 50 Jahre ist doch: Dass einer wie ich, der aus einer Arbeiterfamilie kommt, Professor an der Universität werden kann. Meine Familie hatte vorher keine Akademiker in ihren Reihen. Da wurde dann gefragt: Was macht der Junge eigentlich da am Institut? Einer der schönsten Momente in meinem Leben war, als mein Vater mir nach meinem Habilitationsvortrag sagte: "Jetzt verstehe ich dich." Vorher meinte er immer, dass man in der Wissenschaft ja nichts werden könne, dass ich doch in die Industrie gehen solle. Aber dann sah er mich den Vortrag halten und wusste: Das ist die Sache seines Jungen. So ein fröhlicher, ein emotionaler Zugang zur Wissenschaft funktioniert gesellschaftlich nur dann, wenn alle die Chance haben, auch Wissenschaftler zu werden.

teleschau: Was muss die Gesellschaft dafür tun?

Lesch: Es geht um Bildungsgerechtigkeit; um die Frage, wie wir an die Kids der so genannten "bildungsfernen Familien" herankommen. Es geht um die Chance, wie jemand Sozialwissenschaftler werden kann oder Ingenieur oder Technikerin. Je weiter da die soziale Schere aufgeht, desto mehr werden wir sehen, dass Menschen abgehängt werden. Und daran hängt die Akzeptanz intellektueller und wissenschaftlicher Ergebnisse.

teleschau: Wissenschaft als Voraussetzung für Aufklärung, sozusagen.

Lesch: Klar. Für bestimmte Fragen muss man erst einmal eine gewisse Perspektive erreichen. Da kann auch die Erfahrung der Corona-Pandemie helfen, wichtig Fragen zu stellen: Wie gehen wir mit Natur um - und wie geht Natur mit uns um? Wie gehen wir mit Technik um, und was macht die Technik mit uns? Diesen Gedanken muss man sich stellen, und das braucht eine gewisse Standfestigkeit. So könnten sich beispielsweise die Schulen der Bildung für nachhaltige Entwicklung nähern: Alle Fächer sollten sich darüber Gedanken machen, was sie beitragen können - von Musik bis Mathematik.

teleschau: Umfassende, fächerübergreifende Bildung - so wie in Ihren Sendungen?

Lesch: Es geht um einen allgemeinen intellektuellen Orientierungsblick auf die Welt. Das zeigen auch unsere Sendungen: Man kann die Dinge verstehen, es ist dafür gar nicht notwendig, sich komplett reinzuarbeiten. Aber man sollte sich inspirieren lassen. Wir können mit "Leschs Kosmos" oder "Terra X" nur ein Angebot machen. Was dann hinter den Schädeldecken der Zuschauer passiert - dafür bin ich nicht mehr zuständig.

teleschau: Hat die Erfahrung der Pandemie auch Ihre Herangehensweise und die Ihrer Redaktion beeinflusst?

Lesch: Nein. Wir alle sind Liebhaber der Wissenschaft. Es war eher schwierig, das Corona-Thema rauszuhalten. Einerseits fühlten wir uns immer aufgefordert, zu informieren. Andererseits wollten wir nicht immer nur Miesepetriges machen. Die große Herausforderung war: Lasst uns doch mal wieder etwas machen, das nichts mit der Pandemie zu tun hat (lacht)! Nach wie vor behandeln wir alle Facetten des modernen Daseins.

"Wir sollten nicht alles tun, was wir tun können"

teleschau: Gibt es ein Thema, über das Sie persönlich in den letzten Monaten vermehrt nachdachten?

Lesch: Ich habe begonnen, mich mit den Facetten der Digitalisierung zu beschäftigen. In der Pandemie ist das dank vieler wichtiger Kommunikationsmöglichkeiten ja eine wahre Freude gewesen. Andererseits habe ich das Gefühl, dass im Hintergrund ziemlich katastrophale Dinge passieren, viele Hacker machten sich das zunutze etwa. Zugleich kam vielerorts das Thema der Algorithmen auf, hörte man sogar den Ausdruck "künstliche Intelligenz" - ich lach' mich kaputt!

teleschau: Weshalb lachen Sie darüber?

Lesch: Ein Algorithmus ist nicht intelligent, er kann nicht von sich absehen, nicht über sich hinausgehen. Ich bin da in meinem Sprachgebrauch sehr vorsichtig geworden. Ein Algorithmus hat auch keine Probleme, deshalb kann er keine Probleme lösen. Er lernt auch nichts. Sondern wertet Datenmaterial nach bestimmten Kriterien aus. Lernen und Probleme lösen können nur Menschen.

teleschau: Was ist mit den Chancen, die die Digitalisierung potenziell bietet?

Lesch: Natürlich ist die Chance da, mithilfe von Digitalisierung extrem gute Ergebnisse zu erzielen - etwa in der Landwirtschaft. Kommt aber die egomanische Komponente hinzu, dann wird es katastrophal. Im Reinraum, ohne all die Interessen, Zwecke und Ziele, ohne Triebe wie Gier, ist Technik - wie etwa bei der Digitalisierung - ethisch völlig neutral. Aber in der Kombination mit dem Menschen wird sie zu einer Machtmaschine und Bedrohungsmaschine, zu einer Maschine der Manipulation und praktischen Dehumanisierung - denken wir an autonom entscheidende Waffensysteme. Und wie kommt man eigentlich darauf, Algorithmen zur Bewertung von Menschen einzusetzen, etwa im Bewerbungsgespräch? Seid ihr wahnsinnig? Diesen wissenschaftlichen Missentwicklungen müssen wir entgegentreten. Wir sollten nicht alles tun, was wir tun können. Die Gesellschaft muss dafür sorgen, dass Grenzen gezogen werden.

teleschau: Also die klassische Frage: Welchen Schaden kann der Mensch mit seiner Wissenschaft anrichten?

Lesch: Genau. Zwar ist mein neues Steckenpferd die Auswirkung des "homo digitalis" auf die Gesellschaft - doch zugleich kehrt man auch da immer wieder zu den ganz alten Fragen zurück. Eine der Quintessenzen, für mich als Philosoph, aber auch als Wissenschaftsmoderator, ist Folgendes: Wir haben in den Naturwissenschaften die Naturgesetze inzwischen ziemlich gut identifiziert. Wir entdecken diese Gesetzmäßigkeiten im Labor, störende Einflüsse fallen da weg. Wir können isolieren. Dann nehmen wir diese Ergebnisse und verwandeln sie in Technik. Das bedeutet aber, dass wir die wissenschaftlichen Erkenntnisse unter völlig anderen Randbedingungen einsetzen, etwa unter ökonomischen und machtpsychologischen.

teleschau: Was ist die Folge?

Lesch: Auf einmal hat das, was im Labor so eine gute Wirkung hatte, eine ganz andere Wirkung. Weil sich die Bedingungen geändert haben, unter denen das Gesetz gilt. So wurde die Digitalisierung etwa zu einer Form beschleunigter Ökonomisierung. Dabei geht es um die Logik "Zeit ist Geld".

teleschau: Darüber haben Sie gemeinsam mit zwei Kollegen ein Buch geschrieben. Um zum Anfang zurückzukehren: Hat denn die Pandemie-Erfahrung unsere Wahrnehmung der Zeit verändert?

Lesch: Ganz deutlich. Da sitzt man im Homeoffice und lädt sich den Tag viel zu voll mit irgendwelchen Sitzungen. Obwohl klar ist, dass man davon schon völlig erschöpft ist - Fatigue, müde, fix und fertig. Unsere Vorstellung von Zeit hat sich verändert: Es gibt nicht mehr nur die beschleunigte Zeit, wir sind radikal abgebremst worden, im letzten Jahr bisweilen praktisch auf Null. Wir müssen damit klarkommen, dass es mit dem "immer weiter, immer schneller" nicht weitergeht. Das ist eine ganz neue Erkenntnis. Ich hoffe, dass viele Leute feststellen: Zeit zu haben ist gut! Natürlich nicht die Chirurgen und Hebammen - es gibt Situationen, in denen muss man ganz schnell sein. Aber dass die Gesellschaft weniger schnell und damit ressourcenschonender sein könnte, wäre doch eine interessante Schlussfolgerung aus der Pandemie.

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