"Neues aus der Welt" bei Netflix

Eine Systemsprengerin im Wilden Westen

09.02.2021 von SWYRL/Sven Hauberg

Im Sattel mit Tom Hanks: Die zwölfjährige Berlinerin Helena Zengel spielt die Hauptrolle im Netflix-Western "Neues aus der Welt".

Die Nachrichten waren früher auch nicht besser. Irgendwo im Norden von Texas, vermeldet ein Blatt, ist eine Fähre gekentert, andernorts hat eine Meningitis-Epidemie 97 Todesopfer gefordert, und in einem kleinen Nest an der Ostküste starben zwei Dutzend Männer bei einem Minenunglück. Mit viel Aaah! und Oooh! nimmt das Publikum all die kleinen und großen Schreckensmeldungen zur Kenntnis, die Captain Jefferson Kyle Kidd (Tom Hanks) allabendlich verkündet. Im Schein einer Kerze steht Kidd in den Saloons und auf den Plätzen kleiner texanischer Käffer, und wenn ein paar Dimes in seiner alten Blechdose gelandet sind, dann breitet er die Zeitungen behutsam vor sich aus und fängt an zu lesen.

Es ist das Jahr 1870, der Bürgerkrieg ist erst seit ein paar Jahren vorbei, doch die Spaltung des Landes ist noch immer spürbar. Die Menschen misstrauen sich gegenseitig, sind entweder für eine Sache oder dagegen - Kompromisse sucht hier niemand. Es ist eine Gemengelage, die unheilvoll die USA von heute vorwegnimmt. Durch dieses gespaltene Land tingelt der einstige Südstaaten-Captain in Paul Greengrass' Netflix-Western "Neues aus der Welt" (ab 10. Februar), ohne sich vom Geschrei und Gezeter um ihn herum aus der Ruhe bringen zu lassen. Kidd ist ein stoischer Mann, der schon viel gesehen hat und den es auch nicht aus der Fassung bringt, als er mitten in der Wildnis ein blondes Mädchen entdeckt, das in einen Überfall geraten war.

Johanna Leonberger heißt die Kleine, gespielt wird sie von der heute zwölfjährigen Helena Zengel, die sich vor zwei Jahren durchs Sozialdrama "Systemsprenger" brüllte und mit ihrer intensiven Schauspielkunst begeisterte. Für "Neues aus der Welt", ihren ersten Hollywood-Auftritt, ist die Berlinerin nun für einen Golden Globe nominiert. Und wie in "Systemsprenger", wo sie ein verhaltensauffälliges Mädchen spielte, darf sie auch hier zunächst aus voller Seele in die Kamera schreien.

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Zum Schluss öffnet sich der Horizont

Johannas Eltern wurden, da war sie noch ganz klein, von Kiowa getötet. Seitdem lebte sie bei dem Indianerstamm, der nun seinerseits massakriert wurde. Captain Kidd nimmt Johanna unter seine Fittiche, will sie erst den Behörden übergeben, doch die haben andere Dinge zu tun. Also macht er sich mit dem Mädchen, das nur die Sprache der Kiowa spricht sowie ein paar Brocken Deutsch, auf den Weg nach Süden, wo Johannas Verwandte leben. Es wird eine Reise durch ein gewalttätiges Land, in dem kleine Mädchen ebenso gefährlich leben wie altgediente Generäle.

"Neues aus der Welt" solle schon im vergangenen Jahr in den Kinos laufen, wurde nun aber von Netflix ins Programm genommen. Wie alle Western hätte natürlich auch dieser Film eigentlich die ganz große Leinwand verdient, um all die Sonnenuntergänge, die endlosen Trecks der Siedler und die atemberaubenden Landschaften zu ihrem Recht kommen zu lassen. Immer wieder fühlt sich "Neues aus der Welt" aber auch klaustrophobisch eng an. Da zwängt sich die Kamera durch Felslabyrinthe und schmale Waldwege und wird schließlich in Dörfern ausgespuckt, in denen die Engstirnigkeit regiert. Das Land mag weit sein, der Geist der Menschen ist es nicht.

Regisseur Greengrass ("Captain Phillips", Jason-Bourne-Reihe) erzählt seine Geschichte gemächlich, mitunter fast betulich. Aber er macht das mit einem untrüglichen Gespür für seine Figuren, für zwischenmenschliche Dynamiken und für den Geist jener Zeit, in der der Film spielt. Gegen Ende von "Neues aus der Welt" öffnete sich dann für einen Moment sogar der Horizont, und Captain Jefferson Kyle Kidd beginnt zu träumen. Eines Tages, sagt er, möchte er all jene Orte besuchen, die er nur aus der Zeitung kennt. Man versteht ihn gut.

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