"Latest Record Project Volume 1"

Der späte Van Morrison: Unbequem oder unmöglich?

06.05.2021 von SWYRL/John Fasnaugh

Van Morrison machte zuletzt mehrfach deutlich, dass er von Lockdowns nichts hält und der Wissenschaft nicht traut. Jetzt veröffentlicht er ein maximal grantiges neues Album mit 28 Songs. Der Versuch einer Einordnung.

Er verstehe nicht, was das alles soll. In jedem Fall aber fühlt er sich ungerecht behandelt. "Genauso, wie es Pressefreiheit geben muss, sollte es auch eine Meinungsfreiheit geben, aber im Moment fühlt es sich nicht so an, als sei die gegeben. Wenn man Lieder singt, die ein Ausdruck der Meinungsfreiheit sind, bekommt man dafür sehr negative Reaktionen." So klagte Van Morrison kürzlich in einem Interview mit "The Sunday Times". Dahingehend, dass es eine Meinungsfreiheit geben sollte, wird ihm niemand widersprechen. Van Morrison, der lieber frei ist als eingesperrt, darf meinen, singen und sagen, was er will. Meinungsfreiheit heißt aber im konkreten Beispiel auch: Wenn man der Meinung ist, der späte Van Morrison sei ein Depp, muss man es sagen dürfen.

Robin Swann, Nordirlands Gesundheitsminister, hat nicht gesagt, Van Morrison sei ein Depp. Aber gedacht hat er es vielleicht schon. In einem Gastbeitrag im "Rolling Stone"-Magazin erklärte er unlängst, die jüngsten Songs und Aussagen von Van Morrison seien "bizarr", "unverantwortlich" und letzthin sogar "gefährlich". Sie könnten die Menschen nämlich dazu ermutigen, das Coronavirus nicht mehr ernst zu nehmen.

Swann reagierte damit auf drei im September 2020 veröffentlichte Singles, in denen Van Morrison klar zum Ausdruck brachte, wie wenig er von den Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus hält. Und überhaupt: Wir werden hier doch sowieso nur alle hinters Licht geführt!

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"Wir hatten Besseres von ihm erwartet"

"No more taking our freedom and our God-given rights / Pretending it's for our safety when it's really to enslave", heißt es in einem Stück mit dem unmissverständlichen Titel "No More Lockdown". Wir sollen also unter dem Vorwand der Sicherheit versklavt werden. Außerdem sind die Polizisten, die unseren Frieden stören, gemeine Faschisten ("fascist cops"), und die Wissenschaftler erfinden nur irgendwelche krummen Pseudo-Fakten ("crooked facts"). Woher Van Morrison das alles weiß, sagt er leider nicht. Vielleicht weiß er es aber auch gar nicht. Glauben, ahnen, vermuten, befürchten, dieser Tage führen viele Abkürzungen zu einer "Meinung".

Fakt ist: In Deutschland bekäme Van Morrison sofort den "Querdenker"-Stempel, aber auch international und nicht zuletzt in seiner Heimat Nordirland gibt es ähnliche Bewegungen und die gleichen gesellschaftlichen Gräben. Wir gegen die Schafe, die nicht selbst denken und dem Staat alles glauben. Oder eben: Wir gegen die Aluhüte, die einfach nichts kapieren. Van the Man macht kein Geheimnis daraus, wie er die Dinge sieht und auf welcher Seite er steht. Und die andere Seite macht kein Geheimnis daraus, wie sie das findet.

"Wir hatten Besseres von ihm erwartet", wendet sich Robin Swann in seinem "Rolling Stone"-Artikel vom nordirischen Nationalhelden Van Morrison ab. Im Stadtrat von Belfast wurden Forderungen laut, dem Grammy-Gewinner und auch sonst vielfach ausgezeichneten Star-Liedermacher die Ehrenbürger-Würde wieder zu entziehen. Seine aktuellen Lieder seien ein Schlag ins Gesicht all derer, die täglich in den Krankenhäusern um Leben kämpfen. Wie in den sozialen Medien auf Van Morrisons Anti-Lockdown-Songs reagiert wurde, kann man sich ohnehin leicht ausmalen.

Aber egal, ob er nun den Unterschied zwischen Fakten und Meinungen kennt oder nicht, überzeugt ist Van Morrison ganz sicher von dem, was er in Interviews und seiner Musik äußert. Nach "No More Lockdown" und zwei weiteren "Protest Songs" ("Born To Be Free", "As I Walked Out") sowie einem viel diskutierten Anti-Masken-Lied mit Eric Clapton ("Stand And Deliver") veröffentlicht er jetzt ein neues Album. "The Latest Record Project Volume 1" enthält viel von dem, was Van Morrison als Musiker auszeichnet, also vor allem warmen, beschwingten Soul, Jazz und Blues, immer wieder hübsch aufgemacht mit Background-Chor. "The Latest Record Project" ist aber ganz offiziell auch gedacht als Kommentar zu der Welt, in der wir leben. Oder eben zu der Welt, wie Van Morrison sie sieht. 28 Songs, über zwei Stunden Spielzeit - da hat jemand noch verdammt viel zu sagen.

Gegen die Jugend, die Medien und Tote-Hose-Samstage

Einige Erkenntnisse des Propheten: Die rückgratlose Jugend verschanzt sich nur noch hinter Computerbildschirmen ("Where Have All The Rebels Gone", "Why Are You On Facebook?"); es gibt große Lügen da draußen ("Big Lie") und man muss herausfinden, wer denn da die Fäden zieht ("The Long Con"); Tote-Hose-Samstage ohne Weib und Gesang machen keinen Spaß und berauben den Künstler seiner Stimme ("Deadbeat Saturday Night").

In "They Own The Media" nimmt Van Morrison die vermeintlich gleichgeschalteten Medien ins Visier ("They own the media, they control the stories we are told") und im abschließenden Song "Jealousy" stellt er fest, dass seine Kritiker nur neidisch sind und ohnehin keine unabhängigen Individuen: "I'm not a slave to the system like you". Van Morrison hat viele Fragen, will den Dingen mit aller Macht einen Sinn geben und landet so bei einer Interpretation der Wirklichkeit, die oft überheblich und selbstgerecht ist, manchmal auch wirr und an einigen Punkten völlig daneben.

Wenn man den Künstler also konsequent nach seiner Kunst beurteilt, muss man wohl sagen: Ja, der späte Van Morrison ist ein Depp. Aber wirklich "gefährlich" ist er nicht. Die große Empörung kann man sich hier jedenfalls verkneifen, und man muss jetzt auch nicht alle seine CDs in die Mülltonne werfen. Van Morrison, 75, ist doppelt so alt wie viele seiner Kritiker und hat wohl einfach keine Lust, sich von irgendjemandem noch irgendetwas vorschreiben zu lassen. Und, so ehrlich sollte man sein: Im Überfordertsein mit einer Welt, in der es keine simplen Antworten mehr gibt und trotzdem überall die einzig wahre Wahrheit lauert, ist er definitiv nicht allein.

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